Literaturforum am 28.03.2023

Charles Lewinsky: Gerron / Mercedes Spannagel: Das Palais muss brennen


Mercedes Spannagel: Das Palais muss brennen, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 192 Seiten, 18,- Euro

Charles Lewinsky: Gerron, Nagel und Kimche im Carl Hanser Verlag, München 2011 – als Taschenbuch bei Diogenes 14,- Euro

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Mit ihrem Debütroman „Das Palais muss brennen“ war die 1995 geborene Österreicherin Mercedes Spannagel im Jahr 2020 auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis (bestes Debüt) nominiert.

Die Studentin Luise, genannt Lu, ist Tochter der österreichischen Bundespräsidentin und rebelliert wie ihre Schwester Yara gegen diese Mutter und deren rechtskonservatives Gedankengut. Sich selbst als „links“ einordnend setzt sie sich mit demonstrativen Aktionen von den „Nazis“ um ihre Mutter ab: Ihr Mops heißt „Marx“, die Gewehre einer Jagdgesellschaft versenkt sie im Pool, sie liest die Theoretiker des Kommunismus und des Sozialismus und liebt sich durch zahlreiche Betten von Freund*innen. Dabei ist allzeit Party angesagt: Jede Modedroge und jede Menge Alkohol werden konsumiert, man feiert sich Tag und Nacht durch die Wiener Caféhäuser und Kneipen. Schließlich planen Luise und ihre Freund*innen, die Aktivitäten ihrer Mutter und deren Partei auf dem Opernball bloß zu stellen. Ein Skandalvideo, von dem Lu nichts weiß, wird das Leben der Bundespräsidentin verändern…

Spannagel präsentiert in ihrem Roman einen Zeitgeist der Substanzlosigkeit, in dem alles zur „Performance“ verkommt, und knüpft an die Popliteratur an: die Jeunesse dorée, zu der die präsidialen Geschwister nach ihrer Kindheit in der Vorstadtsiedlung zählen, goutiert Walter Benjamin wie Saint Laurent und Prada. Ihrem ausschweifenden und orgiastischen Leben auf der einen Seite stehen spiegelbildlich korrupte Rechtspopulisten gegenüber. Wir erinnern uns an das Ibizagate des Heinz-Christian Strache (FPÖ) 2019…

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Der Schweizer Autor Charles Lewinsky zeichnet in „Gerron“ das Leben des jüdischen deutschen Schauspielers, Kabarettisten und Regisseurs Kurt Gerron (geb. 1897) nach, der 1944 mit seiner Frau Olga im Konzentrationslager Auschwitz ermordet wurde. Der einstmals gefeierte Film- und Bühnenstar hatte kurz zuvor im KZ Theresienstadt für die Nazis noch den Propagandafilm „Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ (bekannt auch unter „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“) gedreht und konnte der Mordmaschinerie trotzdem nicht entkommen.

Charles Lewinsky lässt Kurt Gerron 1944 in einem großen Inneren Monolog erzählen. Es ist der Zeitpunkt, als Lagerkommandant Karl Rahn ihn auffordert, den Lügenfilm über Theresienstadt zu drehen. Gerron ringt mit sich, ob er sich weigern solle. „Will ich als Mann sterben oder als Schwein weiterleben?“ – Kann das Mitmachen dazu führen, dass er sich und ein paar andere Menschen retten kann, sie vielleicht Zeit gewinnen, bis das KZ vielleicht von den vorrückenden Truppen der Alliierten befreit wird?

In Gerrons Erzählung wird für Lesende die erdrückende, unfassbare Wirklichkeit Theresienstadts spürbar; diese wird jedoch dadurch gebrochen, dass er sein ganzes Leben noch einmal Revue passieren lässt. Das geschieht auf eine sehr unterhaltsame, mit vielen Anekdoten aus dem Künstler*innenleben der Weimarer Republik angereicherten Weise – denn unterhalten, inszenieren, Pointen setzen, das war sein Beruf. –

Nein, ich werde an dieser Stelle jetzt nicht die Lebensgeschichte Kurt Gerrons erzählen, des Künstlers, der neben Marlene Dietrich in „Der blaue Engel“ mitspielte und in der uraufgeführten „Dreigroschenoper“ „Die Moritat von Mackie Messer“ zum Besten gab. Dem literarischen Denkmal, das Charles Lewinsky ihm auf 540 Seiten gesetzt hat, sollten Sie sich im Detail selbst widmen. Es ist eines der äußerst geglückten und großartigen Beispiele dafür, dass es mittels der Fiktion gelingen kann, „in die Schuhe des anderen zu schlüpfen“.

Rita Thies