Literaturforum am 5. November 2019

Erik Fosnes Hansen: Ein Hummerleben / Per Petterson: Pferde stehlen


Ehrengast der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt war Norwegen, ein Land der Bücherfreundinnen und -freunde: 38% der Bevölkerung lesen mindestens zehn Bücher im Jahr, und 76% der Eltern lesen ihren Kindern mindestens zwei- bis dreimal wöchentlich vor (Quelle: Norwegian Readers Survey 2018). Doch norwegische Autorinnen und Autoren haben nicht nur zuhause, sondern schon seit vielen Jahren auch auf dem deutschen Buchmarkt eine große Anhängerschaft. Sowohl Per Petterson als auch Erik Fosnes Hansen zählen zu diesen Autoren, beide sind Meister des unaufgeregten, aber wirkmächtigen Erzählens.


In „Pferde stehlen“ zieht sich der nach dem Tod von Frau und Schwester vereinsamte 67-jährige Trond Sander um die Jahrtausendwende in einer Hütte in den Wäldern Ostnorwegens auch räumlich von der Welt zurück, in der er vorher gelebt hat. Allein mit seiner Hündin Lyra sucht er Ruhe im Leben in und mit der Natur. Telefon, Fernsehen und auch seine Töchter gehören nicht dazu.

Die Begegnung mit seinem Nachbarn Lars Haug öffnet das Tor zu Tronds Erinnerungen an seine Jugenderlebnisse im Jahr 1948. Damals ist der 15-Jährige mit seinem Vater allein zu einem Urlaub in einer Hütte nahe der schwedischen Grenze aufgebrochen, Mutter und Schwester sind in Oslo geblieben. Vor Ort freundet er sich mit dem gleichaltrigen Jon an, aber ein furchtbares Unglück, das Jons Familie widerfährt, beendet diesen Kontakt abrupt. Doch das ist nicht die einzige Enttäuschung, die Trond erlebt; Stück für Stück erfährt er mehr vom „alternativen Leben“ des von ihm geliebten und bewunderten Vaters. Ein Leben, das seinen Ursprung in dessen Arbeit im Widerstand gegen die deutsche Besatzung in Norwegen hat. Das Ende des Sommers 1948 bedeutet für Trond auch das Ende von scheinbaren Gewissheiten, im alternativen Leben des Vaters hat seine Osloer Familie keinen Platz mehr …


Während Per Petterson seine Geschichte sowohl aus der Perspektive des 15-jährigen als auch des 67-jährigen Trond erzählt, folgen wir in Erik Fosnes Hansen „Hummerleben“ allein der Stimme des jugendlichen Sedd im Alter von 13 bis 15 Jahren. Dieser lebt in den achtziger Jahren mit seinen Großeltern in den Bergen im norwegischen Fjell. Dort betreiben die beiden ein Hotel, das – wie viele andere zu dieser Zeit auch – seine besten Tage schon hinter sich hat. Die Gäste bleiben aus, denn die Norweger sind durch die erschlossenen Ölvorkommen reich geworden und können sich nun auch Reisen ins Ausland leisten.

Sedd, mit richtigem Namen eigentlich Sedgewick Kumar, kennt seine Eltern nicht, seine Mutter ist fort, sein Vater tot. Alles Rebellische scheint dem im Hotel fleißig mithelfenden und zuvorkommenden Jungen fremd, er wird durch die Lehrsätze der Großeltern geprägt. Als er nach einem mutigen, aber nicht erfolgreichen Lebensrettungsversuch von Bankdirektor Berge von seinem Freund Hans nach den Details des Sterbens ausgefragt wird, will dieser auch wissen, ob man sich in die Hosen scheiße, wenn man stirbt. Sedds Antwort: „Ich glaube, … wenn man sich zu Lebzeiten wirklich um Selbstkontrolle bemüht, dann kann einem beim Sterben so etwas nicht passieren.“

Die Kontrolle haben Sedds Großeltern über ihre Existenz schon lange nicht mehr – und zwangsläufig gerät in diesem Roman mehr und mehr aus den Fugen …

Rita Thies


 

Stimmen

Meine ganz unliterarische Begegnung mit norwegischer Dramatik

von Eckart Otto

In Norwegen war ich schon in der Sechzigern mit meinen Eltern, am Vinjefjord bei Trondheim, in Vinjeoera am Fjordende. Leckeren Fisch. Da muss ich mir auch den Norwegen-Virus eingefangen haben. Auch damals schon Wanderung in die Berge. Den Einheimischen beim Hüttenbau am See zugesehen, ihr liebstes Hobby. Mit sich und der Welt zu Zween am See alleene – det ist’s! – Der Fischer des Dorfes habe kürzlich einen riesigen Lachsfang gemach und sich danach fürchterlich betrunken. Er habe es überstanden, die Lachse natürlich nicht. Manche Täler, in denen monatelang nicht die Sonne scheinen kann, da kriegt der eine oder andere schon mal den Moralischen. Die Deutschen damals mit ihren Kraft-durch-Freude-Dampfern, die so en passant die Fjord-Tiefe ausloteten, fanden die Norweger nicht so gut. Aber heute sind alle gut drauf.

Später, in den Achtzigern, war ich zu einer Wanderung auf der Hardangervidda aufgebrochen. Mit der Bergen-Bahn bis Finse. Hochebene von 1000 Metern, zwei Wochen Schneeregen im Juli. Die Tour hatte mir einige Mutproben abverlangt. Schon der erste Tag macht mich platt. Die Hütte nicht mehr weit muss ich mich alle naslang ausruhen, ohne Bank ins flache Gras legen. Scheinbar werde ich beobachtet. In der Hütte angekommen höre ich: „Du bist ja ganz erschöpft! Du musst Schokolade essen, dann geht es wieder!“ Später: Flussüberquerung, wo die Brücke zum Wanderweg weggerissen war und irgendwie in Fetzen runterhing. Da guckt man erstmal doof, schreitet den reißenden Gebirgsbach ab wie ein Köter das Hindernis, ist irgendwo ein großen Stein im Wasser, auf den man sich stützen kann? Erlaubt es das andere Ufer, wieder hochzukrabbeln? Dann großes Schneefeld überqueren, das unten irgendwo im See endete. Der Rucksack-Ami von vorgestern schimpft auf der Hütte: „Ich hatte nur noch Angst!“ Die Devise in dieser Natur scheint überhaupt zu lauten: Getrennt marschieren, vereint auftauen! Oder einen glitschigen Fels hinunter steigen, der nach rechts immer abschüssiger wird. Und jedes Mal die Frage, lauf ich die vier, fünf oder sechs Tage wieder zurück? Einen anderen Weg nehmen ging nicht, denn in der Mitte dieser Rundwanderung wohnte ein Gletscher. Den lässt man am besten links – in diesem Fall rechts – liegen! Die Landschaft so weitläufig, dass man manchmal schon morgens um zehn die Hütte sah, die man erst abends um sechs Uhr erreichen wird. Dort war die erste Handlung regelmäßig: Stiefel in den Trockenraum. Den hatte immer schon jemand in Betrieb gesetzt. Am nächsten Morgen waren die Stiefel zwar nicht trocken, aber auch nicht mehr so nass wie noch gestern. Die unbewirtschafteten Hütten sind alle gut eingerichtet, genug zu essen da. Morgens tut man das Geld mit Verbrauchszettel in einen Umschlag und in den dazugehörigen Briefkasten. Ohne Buch übrigens konnte ich schon damals nicht leben, und auf diese Weise hatte ich auf einer Hütte ein teures Fachbuch vergessen, das eigentlich nur das gute Gewissen stabilisieren sollte. Voll blödsinnig! Drei Wochen später war ich zuhause, jetzt mal fragen, wer kennt sich überhaupt mit dieser Hütte aus? Das hatte ich bald heraus, ein Bauer im Tal betreibt diese Hütte, erfuhr ich. „Hier ist soundso, könnten Sie mal bitte nachsehen, ob mein Buch noch auf der Hütte ist?“ Kurze Zeit später kam es als Postpäckchen an.

Irgendwann konnte ich nicht mehr laufen, Fuß tat weh, ich humple bis Finse und fahr mit der Bergenbahn weiter nach Bergen. „Unsere deutsche Stadt“ erklären mir die Norweger. Sie meinen wohl eher „unsere Hansestadt“.  Mit der Hurtigrute fahr ich bis zum Sognefjord bis Balestrand. Eine fantastische Naturarena bietet sich. Heroische Landschaft, großes Theater. Nur in der Ferne ein rotes Licht auf einer Hochspannungsleitung, als Verfremdungseffekt. Im Hotel, im Bäderstil gebaut, herrscht etwas Kaiser-Wilhelm-Folklore, obwohl der eher auf seiner Jacht Meteor genächtigt haben wird. Im Eingangsbereich ein prächtiges Gemälde: Drei fröhlich gestimmte Damen rudern einen augenscheinlich besoffenen Typen übern Fjord. Hier steige auch ich ins Ruderboot um, das geht noch ganz gut. Der Eisregen hat sich in Regen gewandelt.

Letzter Tag – äh, fast hätte ich gesagt: Kaiserwetter! Lustige Kühe bei der Hütte, gutes Stück Weges bis zu Fernbahnhof für den Zug nach Oslo. Der Weg nimmt seinen Lauf, der Tag auch. Das zieht sich so dahin bis nachmittags, als ein Trecker neben mir hält. „Willst du mit?“ Au ja! Eigentlich ist das ja unsportlich, aber jetzt lass ich mal Fünfe gerade sein. Außerdem schlägt man so etwas nicht aus. Das geht so fünf Kilometer oder auch zehn. Ich denk, was gibt es nicht für nette Leute, als er unvermittelt eine scharfe Linkskurve macht, von der Straße runter und – hoppla – jetzt hält er, schaut mich an: „Hier wohne ich, dies ist mein Hof“. Steig ich doch mal ab. „Ja vielen, vielen Dank auch, das hat mir ein gutes Stück weitergeholfen.“

Die Route wird neu berechnet. Jetzt aber’n Zahn zulegen. Es wird eng, und dann kommt noch das dicke Ende am Schluss. In meiner Erinnerung fuhr die Bahn den Haltepunkt gegen Mitternacht an. Vorher muss noch ein Berg erklommen werden. 200 Höhenmeter, eigentlich gar nicht viel. Jetzt renne ich nur noch, was kümmert mich der Rucksack. Müssen diese Serpentinen jetzt sein, gibt es eine Abkürzung? Weiter, weiter. Sich jetzt im Wald verlaufen, das wär’s noch, Weiter! Find jetzt mal ein Hotel nachts im Wald. Weiter, weiter. Der Bergwanderer im Sommer kennt das: Der Anstieg ist steil, die Sonne brennt heiß, und der Berg wird nicht kleiner – da flackert das Hirn nur noch zwischen Zitroneneis, Mineralwasser und Sauerkirsch-Kompott hin und her. Hier aber gräbt sich jetzt ganz was anders ins Bewusstsein – das Sch-Wort: „IchschaffesnichtIchschaffesnichtIch …“ Weiter, weiter. Inzwischen müsste er laut Fahrplan da und vorbei sein. Weiter. Jetzt bloß nicht auf die Uhr sehen! Weiter, weiter. Am Bahnhof müsste eine Bank stehen, immerhin. Im Galopp, weiter, weiter, weiter! Das Plateau ist erreicht! Eine 3-Häuser-Örtlichkeit. Nichts ist zu hören, kein Mucks. Es wird nicht richtig dunkel. Der Bahnhof kommt mir zögerlich entgegen. Auf dem Bahnsteig stehen Leute, schweigend ins Gespräch vertieft. Ich frag einen: „Ist der Zug nach Oslo jetzt eigentlich schon lange durch?“ „Der war noch gar nicht da, der hat Verspätung, wir wissen auch nicht, warum!“ Sieben oder neun Minuten später läuft er ein. Gibt auch noch paar Plätze. In selten erlebter Glückseligkeit lasse ich mich in den Sleeper sinken.

Nächster Morgen, Oslo. Heut ist ein schöner Tag! Frühstück steht jetzt auf dem Programm. Ich lasse mich treiben durch die Hauptstadt. Sicheren Schrittes finde ich bald das erste Café am Platze. Ein Traum von Belle Époque. Für die Uhrzeit schon ganz gut besucht. Ich werd mich mit meiner Zeitung aber nicht am großen Tisch ausbreiten. Da – oh wie hübsch – Bistro-Tisch mit so Art Thonet-Stühlen, Deckchen, frische Blumen. Is’ ja irre – die kennen hier ganz genau meinen Geschmack, freue ich mich, und setz den Rucksack ab. Kommt die Bedienung angeschossen: „Nein nein nein, hier nicht, das geht nicht – das ist der Tisch von Ibsen“. Ach nee, guck – Ibsen! Mann! Jetzt am Nachbartisch, ich lass die Aura des großen Dramatikers auf mich wirken. So nah war der mir zu Schulzeiten nie!

Welche größere Ehre ließe sich einem Dichter erweisen, als ihm mitten unter uns einen Platz freizuhalten, nachdem er eigentlich schon längst gen Literatenhimmel entschwunden ist?

(Laut Wikipedia dürfte es sich um das Grand Café gehandelt haben, es hat inzwischen dichtgemacht.)