Literaturforum am 20.06.2023

Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt / Karine Tuil: Diese eine Entscheidung


  • Karine Tuil: „Diese eine Entscheidung“, München 2022 (dtv), Original 2022 Paris, Hardcover, 351 Seiten, 23,- Euro
  • Ljudmila Ulitzkaja: „Eine Seuche in der Stadt“, München 2021 (Carla Hanser), Original geschrieben 1978, Hardcover, 112 Seiten, 16,- Euro

 In „Diese eine Entscheidung“ erzählt Karine Tuil die Geschichte von Alma Revel, einer Ermittlungsrichterin, die für die französische Justiz in der Abteilung Terrorismusbekämpfung arbeitet. Nach den islamistischen Terroranschlägen von 2015 in Paris gehört sie zu denjenigen, die durch ihre Voruntersuchung von potentiellen Gefährdern darüber entscheiden, ob diese in Haft bleiben oder nicht. Wird der oder die Verdächtige ein Attentat verüben, wenn man ihn oder sie freilässt? – Es ist eine Aufgabe, die die 49jährige Mutter von drei Kindern selbst als Ziel möglicher Anschläge prädestiniert. Zudem fragt sie sich ständig, ob ihre Entscheidungen auch gerecht sind. Zumal sie fest an Resozialisierung irregeleiteter junger Menschen glaubt und ihnen die Lebensperspektiven nicht ungerechtfertigt vorenthalten möchte.

Erschwert wird ihr Leben dadurch, dass sie und ihr Ehemann sich nicht mehr verstehen, sie lebt von ihm getrennt. Ihr Liebhaber wiederum ist der Strafverteidiger eines jungen Mannes, dessen Fall sie bearbeitet. Der 23jährige Abdeljalil Kacem ist von Frankreich aus in den Dschihad nach Syrien gereist und bei seiner Rückkehr festgenommen worden. Alma führt die Verhöre und muss darüber entscheiden, ob ihm zu trauen ist…

In offenen Gesellschaften muss jede und jeder unaufhörlich Entscheidungen treffen und deren Folgen vor sich und anderen rechtfertigen. Karine Tuil spürt allen damit verbundenen individuellen und gesellschaftlichen Widersprüchen in den Gedankengängen der Alma Revel nach, seziert schonungslos antagonistische Wahrheiten.

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Ljudmila Ulitzkaja, 80 Jahre alt, eine der berühmtesten zeitgenössischen russischen Schriftstellerinnen und stimmgewaltige Gegnerin des Putin-Regimes, musste mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine schnell ihre Heimat verlassen, um einer Verhaftung zuvorzukommen. Sie lebt heute in Berlin.

„Eine Seuche in der Stadt“ ist schon ein Jahr zuvor, während der Corona-Pandemie auf Deutsch erschienen. Ursprünglich hatte Ulitzkaja dieses Stück im Jahr 1978 für die Bewerbung zu einem Drehbuchkurs geschrieben. Ein Fundstück, das hochaktuell ist.

Worum es geht: Nach den Schauprozessen in der Sowjetunion, im Jahr 1939, steckt sich der Wissenschaftler Rudolf Iwanowitsch Mayer in der Isolierkammer bei Impfstoffforschungen unbemerkt mit dem Pestbakterium an. Er soll in Moskau dem Volkskommissariat für Gesundheit über seine Forschungsergebnisse Bericht erstatten und macht sich auf dem Weg. Das Pestbakterium ebenso und verteilt sich: Im Zug, im Hotel usw. Der Volkskommissar für Gesundheit bekommt bei der Bitte um Hilfe von Stalin den Geheimdienst (NKWD) an die Seite gestellt. Dieser soll dabei helfen, die Betroffenen zu ermitteln, um sie in Quarantäne zu bringen…Was das für Folgen nach sich zieht und wie verschiedene Personen nun darauf reagieren, wenn der gefürchtete Geheimdienst vorfährt, das malt Ulitzkaja sehr anschaulich aus.

Man könnte diese Drehbuchgeschichte allein wie eine bitterböse Satire auf den stalinistischen Terror lesen, zum Schmunzeln gibt es in dem schmalen Band wirklich genug. Doch: Der kleine Pestausbruch hat sich damals tatsächlich auf diese Weise zugetragen, der Geheimdienst hat die Infizierten ausfindig gemacht. Und Stalin und seine Methoden sind in Putins Machtclique und bei seinen Anhänger*innen schon längst wieder gesellschaftsfähig geworden.

 

Rita Thies