Literaturforum am 8. Oktober 2024

Hans Pleschinski: Der Flakon / Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff


Hans Pleschinski: Der Flakon, München 2023, 26,- Euro 

Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff, München 2024, 24,- Euro

 

Mit Hans Pleschinskis „Der Flakon“ *und Michael Köhlmeiers „Das Philosophenschiff“ stehen diesmal zwei aktuelle (2023 und 2024) historische Romane zur Diskussion. Nur soviel vorweg: Beide sind hervorragend recherchiert sowie gleichzeitig erkenntnisgewinnend und unterhaltsam zu lesen. Sie erzählen über weite Strecken in einem Plauderton, aber ansonsten auf eine sehr unterschiedliche Weise…

 

In „Der Flakon“ finden wir uns im Sachsen des 18. Jahrhunderts wieder: Just hat der preußische König Friedrich II. Ende August 1756 ohne Kriegserklärung Sachsen überfallen, so muss schon im Oktober die Armee des Kurfürsten Friedrich August II. kapitulieren. Der Kurfürst, zugleich König von Polen, flieht mit seinem mächtigen Premierminister Reichsgraf Heinrich von Brühl nach Warschau. Zu den Fakten gehört, dass das kulturell prächtig aufgeblühte Sachsen mit seinen Schlössern, Gemäldesammlungen und Porzellanmanufakturen zwar das einzige Land in Europa ist, das seine Armee komplett mit Perücken ausgestattet hat, aber solch ästhetisches Feingefühl bei der Truppenausstattung scheint bei der Landesverteidigung weniger ins Gewicht gefallen zu sein.

Verblieben sind in Dresden die kranke Königin und an ihrer Seite die Gattin des Premierministers, Reichsgräfin Maria Anna Franziska von Brühl. Letztere möchte die Zerstörung und Plünderung der Elbflorenz und damit auch ihres Lebens durch die preußischen Truppen nicht kampflos hinnehmen und beschließt die Vergiftung des Tyrannen. Da ihr selbst der Zutritt zu Friedrich dem Großen wohl nicht gewährt werden wird, beschließt sie, mit einem Fläschchen Gift nach Leipzig zu reisen und dort zwei Geistesgrößen, Christian Fürchtegott Gellert und Johann Christoph Gottsched, die beide Zugang zu Friedrich II. haben, mit dem Mord zu beauftragen.

Die couragierte Reichsgräfin macht sich inkognito mit ihrer Kammerjungfer Baronesse Luise von Barnhelm und dem preußischen Major Georg Wilhelm von der Marwitz auf den Weg nach Leipzig. Der „schöne Marwitz“ ist ein Favorit des preußischen Königs – und seines Bruders Heinrich…

Der Weg in einer normalen Postkutsche gestaltet sich für die luxusverwöhnte Reichsgräfin mehr als beschwerlich. Dafür sind die Erkenntnisse, die sie über Land und Leute in dem kriegsverwüsteten Sachsen erfährt, umso interessanter. Dieses lebendige Geschichtspanorama, das sich dabei vor den Augen der Leser*innen entfaltet, ist die spannendste Überraschung in diesem Roman. Der Lebensalltag der einfachen Leute zu jener Zeit und die Einblicke in Literatur- und Geistesgeschichte kommen mit scheinbar leichter Hand niedergeschrieben daher, bei aller Schwere heiter und mit feiner Ironie gewürzt. –

Inspiration für „Der Flakon“, so Hans Pleschinski, sei übrigens eine Anekdote, die Graf von Lehndorff, Kammerherr der Königin von Preußen, in seinem geheimen Tagebuch notiert habe: Ein Giftanschlag auf König Friedrich II. –

 

Auch Michael Köhlmeiers Roman „Das Philosophenschiff“ liegt eine historische Begebenheit zugrunde, die in den Annalen der Geschichte eher als Randnotiz verzeichnet ist: 1922 legen in verschiedenen sowjetischen Häfen sogenannte „Philosophenschiffe“ ab. Schiffe, die Intellektuelle, die nicht hundertprozentig auf der Linie der Bolschewiki liegen oder nicht liegen sollen, außer Landes nach Westen schaffen.

In die Rahmenhandlung schreibt Michael Köhlmeier sich selbst hinein: Er ist eingeladen bei der früheren Star-Architektin Anouk Perleman-Jacob, zu deren Ehren anlässlich ihres hundertsten Geburtstags im Mai 2008 ein großes offizielles Abendessen gegeben wird. Er wundert sich über diese Einladung, folgt ihr und stellt fest, dass die Jubilarin ihn selbst geladen hat. Sie möchte, dass er ihre Geschichte aufschreibt. Denn er habe „einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen windigen. Ich weiß, dass sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr.“ Gerade deshalb habe sie ihn ausgewählt: „Was niemand weiß, das sollen sie schreiben, ein Schriftsteller, dem man nicht glaubt was er schreibt. … Aber erzählt werden soll es.“

Was folgt, ist die (fiktive) Geschichte der Anouk Perleman-Jacob, die als Teenager im Alter von vierzehn Jahren mit ihren Eltern auf einem „Philosophenschiff“ gemeinsam mit wenigen anderen Passagieren deportiert wird. Irgendwann kurvt das Schiff auf offener See, kommt zum Stillstand. Das junge Mädchen stellt fest, dass ein weiterer Passagier an Bord gebracht wird: Lenin. Der sitzt allein in einem Rollstuhl – die einsame, sich langweilende Anouk freundet sich mit ihm an…

Ein erzählerischer Clou, der hier deshalb verraten sein mag, da der Verlag dieses Geheimnis bereits im Klappentext lüftet. Denn Lenin hatte bekanntermaßen die Deportationen der Intellektuellen selbst angeordnet, umso spannender – und in der historischen Bewertung umso wahrer – wird die Geschichte, die sich dann auf dem Schiff entwickelt.

Tatsächlich entfaltet der Roman ein großes Gesellschaftspanorama der Zeit nach der Oktoberrevolution, und so erzählt Köhlmeier einen Kosmos voller historisch verbürgter Lebensschicksale und findet zugleich durch seine Fiktionen scheinbar beiläufig ausgesprochene Wahrheiten.

Rita Thies

 

 

*Einige von Ihnen haben Hans Pleschinski und die Vorstellung seines Romans vielleicht schon im Sommer auf unserem Literaturfestival „Ins Offene: Die Fiktion fürchtet nichts“ miterlebt.