Literaturforum am am 27. August 2022, um 13.30 Uhr im Burggarten Sonnenberg

Vendela Vida: Die Gezeiten gehören uns / Sylvain Prudhomme: Legenden


Vendela Vida: Die Gezeiten gehören uns, Hanser, Berlin 2022 (Englische Originalausgabe New York 2021), 22,- Euro

Sylvain Prudhomme: Legenden, Unionsverlag, Zürich 2021 (Französische Originalausgabe Paris 2016), 13,95 Euro

Sylvain Prudhommes Roman „Legenden“ ist in dem kargsten Landstrich der Provence verortet, der Crau. Die Schottersteppe, „ein toter Winkel“ in der Region, wird seit Jahrtausenden für die Schafszucht genutzt. Hier lernen sich zwei Männer über ihre Kinder kennen, die beide von der Landschaft fasziniert sind. Sie dokumentieren diese beide: Nel ist Fotograf, und sein neuer Freund Matt, Engländer und Unternehmer, will einen Film über die Gegend drehen. Als Nel, der dort aufgewachsen ist, Matt von der Diskothek „Chu“, einem angesagten Szenetreffpunkt in den Achtzigerjahren, erzählt, ist die Neugier des Engländers geweckt. Er möchte immer mehr von den Menschen vor Ort und ihrem Leben zu dieser Zeit erfahren.

Besonders fasziniert ihn die Geschichte von zwei Brüdern, deren wildes Leben schon zu Schulzeiten für Legendenbildungen gesorgt hat. Zwei Cousins von Nel, die ihn als kleinen Jungen ab und an mitgeschleppt haben. Fabien und sein jüngerer Bruder Christian sind Kinder eines Ehepaares, das ein abenteuerliches Leben in Madagaskar verbringt – der Vater ist professioneller Schmetterlingssammler – und nur ab und an zuhause ist. Zuhause in Frankreich, das ist für die Jungen eine Villa auf der Höhe, in der sie allein mit ihrer Großmutter leben. Es sind zwei Jungen, die einen bedingungslosen Freiheitsdrang haben, ihre Grenzen nicht nur ausmessen, sondern ständig überschreiten. Es ist die Attraktivität eines exzessiven Lebens zweier gutaussehender junger Menschen, mit Schlägereien, scheinbar unendlichen Partys, sexuellen Ausschweifungen, Drogen. Matts Film soll nun ein Film über die beiden werden – und so versucht er über Nel, alte Freunde und Familienmitglieder so viel wie möglich über Fabien und Christian zu erfahren. Eine Chronik der Achtziger anhand ihres Lebens soll es werden.

Es ist dies erzählte und von Nel als Kind beobachtete wilde, sich selbst verzehrende Leben, das die beiden Familienväter fasziniert, die „Legenden“. Ein Leben, das sie selbst nicht führen. Denn für Nel ist die „Geschichte meiner Familie…die Geschichte von Schafen…Die Geschichte meiner Cousins die Geschichte von Schmetterlingen.“ Schmetterlinge, die irgendwann dem Feuer zu nah gekommen sind und relativ jung ihr Leben verloren haben.
Prudhomme erzählt dabei keine Entwicklungsgeschichte, sondern richtet den Fokus auf Matt und Nel und dem, was die Erzählungen bei Ihnen auslösen. Dabei entsteht ein hochpoetischer, sensibler und gleichsam unaufgeregter Erzählfluss, denn er umkreist neben den Figuren unentwegt auch die Landschaft. In ihr müssen sich die beiden Dokumentaristen letztlich dem Hier und Jetzt stellen…

 

In die „Gezeiten gehören uns“ von Vendela Vida scheinen die Achtziger in Sea Cliff (San Fransisco) für die Ich-Erzählerin Eulabee und ihre Freundin Maria Fabiola alles andere als wild zu sein. Die pubertierenden Dreizehn-/Vierzehnjährigen, die eine gute Privatschule besuchen, sehnen sich nach kleinen Abenteuern. Eins davon besteht zum Beispiel darin, bei Flut Klippen zu überqueren und eine Bucht aufzusuchen, den Gezeiten zu trotzen.

Auf der Suche nach weiteren Abenteuern und vor allem ununterbrochener Aufmerksamkeit nimmt es Maria Fabiola mit der Wahrheit nicht so genau und beschuldigt einen Autofahrer, sie sexuell belästigt zu haben. Während zwei weitere Freundinnen die Lüge des durchsetzungsstarken und überall im Mittelpunkt stehenden Mädchens stützen, weigert sich Eulabee, die Version ihrer Freundin der Polizei zu erzählen. Als „Verräterin“ gebrandmarkt, wird sie nun von allen anderen Schülerinnen in der Klasse geschnitten.

Was auf den ersten Blick als ein Plot für ein Jugendbuch daherkommen könnte, entpuppt sich in Vidas Roman schnell als eine gekonnte Geschichte um Geltungssucht und Macht – Maria Fabiola und Donald Trump könnten ein und dieselbe Person sein. – Schließlich inszeniert das selbsternannte Alphamädchen auch noch ihre Entführung und verwickelt Eulabee schließlich in das wirre Konstrukt ihrer Lügengeschichten…
Vergnügen beim Lesen haben mir die humoristischen Subversionen der jungen Ich-Erzählerin Eulabee bereitet, die trotz der schmerzhaften Zurückweisungen in bemerkenswerter Weise der Wahrheit verpflichtet bleibt.

 

Rita Thies

 

Hinweis: Das Literaturforum findet diesmal nicht im Literaturhaus, sondern im Rahmen des Festivals „Ins Offene“ im Freien, im Burggarten in der Burg Sonnenberg, statt. Talstr. 5, zu erreichen mit den Buslinien 16 und 18 (Haltestelle Hofgartenplatz).