Überraschungen bereichern das Leben, weil sie die eigenen Klischees und Vorstellungen immer wieder einmal in Frage stellen. So ging es mir, als mich der Weg in das Gewerbegebiet Kastel zum Gespräch mit den Macher*innen in den Bücher Basar führte. Eine eher reizlose Gegend, deren Straßen von Bürobauten, Autohändlern, Handwerksbetrieben und Großmärkten gesäumt sind. Kein Ort für Kunst und Kultur, für Muße und Genuss. Und gewiss kein Ort für Bücher.

Doch in der Anna-Birle-Straße entdecke ich nach einigem Suchen Hinweisschilder am Haus Nr.3 mit der Aufschrift „Bücherbasar“. Eine  unauffällige Metalltür führt in einen schlichten Gewerbebau, der vormals eine Druckerei beherbergte. Im Treppenhaus gibt es zunächst keinen Beleg für die Außenbeschriftung: Kein Buch ist zu sehen. Vom munteren Treiben eines Basars keine Spur. Das ändert sich schlagartig, als ich eine weitere Tür im ersten Obergeschoss  öffne: Der Sesam öffnet sich – und ich bin im Basar der Bücher angekommen Auf 350 Quadratmetern stapeln sich hunderte, tausende Bücher, Bücher, Bücher. Eine faszinierende und inspirierende Atmosphäre wie man sie eher im hippen Berlin vermutet.

Mathias Meyers, der Fachleiter des Bücherbasars, seit 1990 bei der Werkgemeinschaft tätig, begrüßt mich herzlich und wir setzen uns gemeinsam mit seiner Kollegin Vanessa Vogt in einen separaten gut gelüfteten und damit pandemiekonformen Raum, wo sie mir bei einer Tasse Kaffee die Geschichte des Bücherbasars und damit auch ein wenig ihre Geschichte erzählen.

Im Herbst 2019 entwickelten  Meyers und sein Team die Idee zu einem  Bücherbasar in Wiesbaden und gewann in seiner Kollegin Vanessa Vogt, die in Zürich Sozialpädagogik studierte,  gleich eine engagierte Mitstreiterin. Die Idee hinter dem Basar: Zwei Interessen zu bedienen – nämlich Menschen, die gut erhaltene Bücher abgeben wollen, genau dies zu ermöglichen – und Menschen, die gerne lesen, diese Bücher kostengünstig anzubieten. Und damit einen im wahrsten Sinne nachhaltigen Bücherkreislauf zu schaffen.

Dass der Standort außerhalb der Innenstadt liegen sollte, war nicht nur der Suche nach einer bezahlbaren Miete geschuldet, sondern auch dem Wunsch, keine Konkurrenzveranstaltung zum Einzelbuchhandel in der Innenstadt zu schaffen. Der Gewerbebau in Kastel erfüllte diese beiden Kriterien – und noch ein drittes dazu, da er mit dem ÖPNV gut zu erreichen ist.

Doch der Bücherbasar, der neben der Werkgemeinschaft auch von der Aktion Mensch, den LWV Hessen und die LHST  Wiesbaden, getragen wird, bietet nicht nur einen Bücherkreislauf.  Er ist überdies Arbeitsplatz für 23 Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt nur geringe Chancen haben. Und er bietet den Besuchern auch weit mehr als bloßen Lesestoff für kleines Geld. Hier können sie soziale Kontakte pflegen und im angeschlossenen Lesecafé  mit anderen Bücherfreunden plaudern – sobald die Pandemie das wieder zulässt.

Im Angebot findet sich alles, was die Bücherlandschaft hergibt: Historische Romane, Science Fiction, Hochliteratur, Krimis, Kinderbücher, Fachbücher, Kochbücher, englische und französische Literatur. Angenommen wird thematisch alles, vorausgesetzt, die Bücher sind in einem guten Zustand.  Mittlerweile hat sich das Angebot auch um Hörbücher, CDs, LPs, Puzzle und Spiele erweitert.

Die Mitarbeiter katalogisieren die Abgabestücke, ordnen sie in den Basar ein, wo sie für einen geringen Obolus verkauft werden. Ein Taschenbuch kostet einen Euro, ein Hardcover-Titel zwei Euro. Von den Einnahmen wird die Einrichtung wiederum refinanziert.

Und was liest man selbst, wenn man den Tag in einem solchem Bücher-Schlaraffenland verbringt, frage ich zum Ende meines  launigen Gespräches meine beiden Gesprächspartner. Vanessa Vogt hat  sich gerade den Titel „Christiane F – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ entschieden, der Ende der 70er Jahre erschienen ist, im Drogenmilieu Jugendlicher in West-Berlin spielt und seit Februar als Neuverfilmung auf Amazon Prime zu sehen ist.

Und Mathias Meyers? Als gebürtiger Mainzer liest er einen historischen Krimi, der in Mainz im Jahr 1946 spielt: „Unter Trümmern“ heißt er und stammt von Jürgen Heimbach. Als Zweitlektüre liegen bei ihm Kurzgeschichten der ebenfalls in Mainz geborenen Anna Seghers auf dem Nachttisch, die sich der Nazi-Verfolgung ins Exil gerettet und nach dem Krieg in der DDR angesiedelt hatte. Es versteht sich von selbst, dass beide Bücher aus dem Fundus des Bücherbasars stammen.

Nach den Wünschen für die Zukunft gefragt, kommt, wie nicht anders zu erwarten, die Antwort: „Wir wollen endlich in die Öffentlichkeit und die Einrichtung mit Veranstaltungen zum Thema Buch und Lesen bekannter machen.“ Auf  Instagram ist der Bücherbasar bereits zu finden und einen  Webauftritt gibt es unter  www.wiesbadener-buecherbasar.de und / oder www.werkgemeinschaft-wiesbaden.de auch.

Besucher*innen sollen aber nun endlich die Möglichkeit haben, das Lesecafé und die Leselounge mit Leben zu füllen oder stundenlang in den Büchern zu stöbern.

Mein Tipp: Wenn es Sie und Ihre Familie, gerne auch mit Kindern, nach einer besonderen Atmosphäre dürstet und Sie eine hohe Affinität zum Buch haben, dann machen Sie doch einfach mal einen Ausflug zum Stöbern in den Bücher Basar.

Ich selbst beschließe auf dem Rückweg,  sobald wie möglich den heimischen Bücher-Fundus zu durchforsten und die Ausbeute meiner Ausforstung nach Kastel zu bringen. Die entstandenen Lücken im Regal werden aber vermutlich bald wieder mit der einen oder anderen Buchentdeckung geschlossen werden, die ich natürlich im Bücherbasar erworben habe.

Dirk Hoga im März 2021

 

 

 

 

Dieser Mann hat Geschmack. Gut gekleidet mit einem eleganten Sakko und der sommerlichen Hitze trotzend, treffen wir uns Mitte August auf dem Wiesbadener Weinfest, um uns gleich darauf in ein ruhiges Café um die Ecke zu begeben. Bei gut gekühltem Rosé beginnen Tilman Allert und ich unser Gespräch. Denn ein Interview, wie verabredet, wird es nicht geben mit dem Mann, der sich mit einem wunderbaren Büchlein in meine Jugend katapultiert und meine Kindheitserinnerungen wachgerüttelt hat: „Der Mund ist aufgegangen – vom Geschmack der Kindheit“, erschienen 2016 im Verlag „zu Klampen“.

Meine Generation (geb. 1959) erinnert sich mit Freude an das pfefferminzige Vivil-Bonbon, das elfenbeinfarbige Nappo oder das Himbeerbonbon. Wir diskutieren meine Frage, ob es nicht auch die Form der Süßigkeiten war, die sich eingeprägt hat. Das weiße, fein kannelierte Rund des Vivil in grüner Rolle verpackt, die Raute des Nappo, in buntem Alu, oder die gepresste rote Kugel des Himbeerbonbons. Formen und Farbe, die ich beim Lesen des Büchleins sofort vor Augen hatte und die untrennbar von ihrem Geschmack sind. Die Frage, ob eine Fortsetzung von Erinnerungen in Formen und Farben vorstellbar ist, ist interessant, und noch interessanter, wenn man ein solches Buch in 20 Jahren schreiben würde.
Tilman Allert arbeitet aktuell an einem Buch mit dem Titel „Zum Greifen nah“ — von den Anfängen des Denkens. Das beschäftigt den Professor für Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er ist Mitglied der Plessner-Gesellschaft und Kenner des 1821 in Wiesbaden geborenen Helmuth Plessner. Die Stadt Wiesbaden hat auf Empfehlung von Tilman Allert zu Ehren Plessners, des großen Denkers der philosophischen Anthropologie, den mit 20 000 Euro dotierten „Wiesbadener Plessner-Preis“ ins Leben gerufen. Der Preis wird alle drei Jahre vergeben, zuletzt erhielt ihn Peter Sloterdijk. Neben seiner Tätigkeit als Professor in Frankfurt ist Tilman Allert Gastdozent in Tiflis, Eriwan und Berlin.

Wir verlassen Plessner und sprechen über die Sprache als Haus des Seins. Nun ist es nicht mehr weit und die Brücke zur Architektur ist geschlagen. Den Schweizer Architekten Peter Zumthor schätzen wir beide sehr, den Pritzker-Preisträger (Nobelpreis der Architektur), der in Köln das Columba-Museum baute und auf einem Acker bei Bonn im Auftrag eines Bauern die Brüder-Klaus- Kapelle. Peter Zumthor formulierte 2017: Ich schaffe Räume, die Stimmung und Atmosphäre haben, in den man gerne ist. Allert nennt ihn den Philosophen des Baulichen. Damit hat er sehr Recht.

Tilman Allert hat eine große Leserschaft nicht nur seiner zahlreichen Bücher, er schreibt auch regelmäßig Beiträge für die FAZ, für Brand Eins und die Neue Zürcher Zeitung. Auf sein neues Buch dürfen wir uns freuen, auf kluge Beobachtungen des Alltags, die Staunen machen werden. Abschließend weise ich unser Mitglied im Fördervereins Literaturhaus Villa Clementine noch auf die runderneuerte Website unseres Vereins hin. Wir verabschieden uns und freuen uns auf ein baldiges Wiedersehen im Literaturhaus Villa Clementine. Möglicherweise trägt er dann schon aus seinem neuen Buch vor.

Foto Tilman Allert: © Uwe Dettmar