• Daniel Kehlmann: Lichtspiel, Hamburg, 2023 (Rowohlt Verlag GmbH, 477 Seiten, gebunden, 26,- Euro)
  • Yishai Sarid: Monster, Zürich-Berlin, 2019/1920 (Kein & Aber AG, 176 Seiten, als Taschenbuch 13,- Euro – aus dem Hebräischen)

Kurz vor der Veranstaltung finden Sie hier weitere Informationen zu den Romanen.

  • Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen, Berlin, 2022 (Verlag Klaus Wagenbach, broschiert, 14,- Euro)
  • Arianna Cecconi: Teresas Geheimnis, Wiesbaden, 2024 (S. Marix Verlag, gebunden, 22,- Euro)

 

„Sie nannten ihn den Krumenbub, weil er der Sohn des Bäckers war und weil er schwach war, er hatte keine Kruste, an der Luft gelassen, hätte er Schimmel angesetzt, nicht einmal für die Brotsuppe hätte er getaugt, nicht einmal als Hühnerfutter.“ – Es ist nicht allein dieser erste Satz des Romans, mit dem Giulia Caminito in „Ein Tag wird kommen“ die Lesenden sofort ins Bild zieht, es ist die ungeheuerliche Szene selbst, die sie mit wenigen Sätzen im Prolog erzählt: Da richtet der schwächelnde und ängstliche Bruder Nicola, der Krumenbub, das Gewehr auf seinen großen und starken Bruder Lupo und drückt schließlich ab.

Caminito erzählt die Geschichte der beiden grundverschiedenen Jungen und ihrer Familie Ceresa, die in dem kleinen Ort Serra de‘ Conti in den italienischen Marken leben. Es ist eine Familiensaga mit beeindruckenden Bildern, die das Leben der einfachen Leute auf dem Land und die Umbrüche in Politik und Gesellschaft Italiens in der Zeit von 1880 bis 1920 nachzeichnen. Als Halbpächter müssen die Bauern den Padrones viel zu viel ihrer Ernte überlassen. So verwundert es nicht, dass, wie in anderen Ländern Europas auch, die Unterdrückten gegen die Herrschaft der Wenigen rebellieren: Lupo, der starke, widerspenstige und wütende Bruder, der sowohl die weltlichen als auch die kirchlichen Herren hasst, schließt sich den Anarchisten an und ist bei dem Aufstand in Ancona (Settimana Rossa) dabei. Dann soll er als Soldat in den Ersten Weltkrieg eingezogen werden…

Neben Nicola und Lupo stellt die Autorin ein Figurenensemble vor, dessen Geschichten von Hass, Verrat, Gewalt und Schuld sich in Vor- und Rückblenden zu einem großen Roman verweben, der nach und nach dunkle Familiengeheimnisse ans Licht kommen lässt.

Geschickt einbezogen hat Caminito zudem das Leben der Äbtissin des in der Nähe befindlichen Klosters, Suor Clara. Damit setzt sie dem tatsächlichen historischen Vorbild der„La Moretta“ – so wurde sie vom Volk genannt – der als Zeinab Alif geborenen Nonne Maria Giuseppina Benvenuti ein literarisches Denkmal. Alif wurde als Kind im Sudan entführt, als Sklavin verkauft und schließlich von der katholischen Kirche zur Nonne erzogen. Die außergewöhnliche Äbtissin ist nicht die einzige Person, die das Schreiben der Autorin inspiriert hat – doch lesen Sie selbst…

 

Die Anthropologin Arianna Cecconi, die mit „Teresas Geheimnis“ ihr Romandebüt vorgelegt hat, befasst sich in Forschung und Lehre u.a. mit Träumen, Schlaf und magisch-religiösen Praktiken. Diese Kenntnisse bilden die Grundierung für eine Familiengeschichte um sechs Frauen, die im Jahr 2005 in einem Haus in der Po-Ebene zusammenkommen.

Teresa, die Großmutter der Erzählerin Nina, hat vor zehn Jahren beschlossen, nicht mehr zu sprechen. Sie hat gespürt, dass sie vergisst, Demenz von ihr Besitz ergreift und beschlossen, nicht mehr zu reden, um ein Familiengeheimnis nicht zu verraten. Seit zehn Jahren liegt die schon lange verwitwete Frau nun schon schweigend im Zentrum des Hauses, dem Wohnzimmer, in dem sich die das Leben der drei Generationen von Frauen trifft. Es ist der Ort, in dem die Familie gemeinsam isst, sich Geschichten erzählt oder eine Telenovela schaut. Die Familie ist eine der Frauen, Männer leben hier nicht. Die strenggläubige Cousine Rusì wohnt im Haus, Teresas Tochter Flora und Pilar, eine Pflegerin, die aus Peru diverse magische Riten und Bräuche mitgebracht hat. Als sich Teresas Sterben ankündigt, kommen auch Teresas Tochter Irene und Enkelin Nina ins Haus. Alle Frauen verbringen Stunden an Teresas Sterbebett und entwickeln in diesen Begegnungen und in ihren Träumen ihre jeweils eigene Kommunikation mit der Sterbenden. So enthüllt sich nach und nach nicht nur Teresas Geheimnis, sondern auch so manche versteckte Kränkung…

 

Während Caminito ihren Roman vor großen historischen Umbrüchen entfaltet, bezieht Cecconi sich auf den kleinen geschlossen Lebensradius der sechs Frauen. So unterschiedlich die erzählte Wirklichkeit bei beiden ist, so schaffen doch beide Autorinnen einen Kosmos voller Figuren mit Lebensgeschichten, die zutiefst berühren.

Rita Thies

Skeptisch hätte er, zugeneigt dem Bauhaus-Stil, die neobarocke Ausstattung des Roten Salons im Wiesbadener Literaturhaus betrachtet, fragwürdiger noch wäre ihm das große Interesse an seinem Leben vorgekommen, das aus vollbesetzten Stuhl-Reihen sprach. Da war es gut, dass der Förderverein Literaturhaus einen Autor als Brückenbauer zwischen Ludwig Wittgenstein, dem Architekten in Wien, Dorfschullehrer, Medikamentenboten und Professor der Philosophie in Cambridge eingeladen hatte, ihn als eigenwillige und menschenscheue, gleichzeitig sympathische und spannende Person vorzustellen. Markus Seidel lässt in seinem Roman „Die letzten Tage vor dem Schweigen“ Ludwig Wittgensteins letzte Lebenswoche im Haus von dessen Arzt Edward Bevan Revue passieren (vom 23. bis 29. April 1951) und liest nach der Begrüßung durch Vereinsvorsitzende Rita Thies daraus im Literaturhaus gemeinsam mit Schauspielerin und Kabarettistin Katalyn Hühnerfeld. Er schnell, sie rhythmisch. Sie bringen Erzählprosa und Dialoge mit verteilten Rollen in fliegendem Wechsel.

Ludwig Wittgenstein geht mit Mrs. Bevan ins Pub, geht mit dem 17-jährigen Nachbarjungen ins Kino und arbeitet am letzten Werk „Über Gewißheit“. Während dieser Alltagsbeschäftigungen lässt Markus Seidel seine Figur auf entscheidende Moment seines Lebens zurückblicken. So kündigt der Autor es in der Kurzvorstellung der biografischen Stationen an und liest daraufhin die entsprechenden Passagen über Wittgensteins pädagogischen Jähzorn, seinen Hang zum Perfektionismus und das Bedauern, dass sein Denken nicht verstanden werde. „Da hat er recht gehabt“, meint Markus Seidel, der selbst zumindest „nach und nach 70 Prozent“ davon begriffen hat, was der Philosoph hatte sagen wollen (im Erstling „Tractatus Logico-Philosophicus“, 1921; Spätwerk: „Philosophische Untersuchungen“, 1953).

Sein Buch von 185 kleineren Seiten  (Verlag Omnino) befasst sich aber nicht mit Wittgensteins Denkmodellen, sondern will dessen Persönlichkeitsstruktur nachzeichnen. „Ein einsamer Typ“, dieser jüngste Knabe von neun Kindern aus schwerreicher österreichischer Industriellen-Familie, der sein Millionenerbe später weggeben wird, um sich in der Praxis selbst zu erproben, ein „leidenschaftlicher Mensch“, der alles perfekt beherrschen will, kompromisslos anstrengend für seine Umwelt, oder auch, wie Markus Seidel sagt: „ein origineller und originärer Mensch“. In seinem Buch stellt er diesem empfindlichen Genie die mitfühlende, lebenskluge und klavierspielende Arztfrau Mrs. Bevan an die Seite, die den kranken Mann begleitet. Der 17-jährige Nachbarjunge taucht in der Lesung nicht auf, ist aber für den homosexuellen Professor die tröstliche Augenweide seiner letzten Tage.

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – Wittgensteins einziger Satz im letzten Abschnitt seines „Tractatus“ hat Autor Markus Seidel mit seinem Roman – wie schön – nicht befolgt, sondern nach Robert Seethalers Muster eines Gustav-Mahler-Künstlerromans in „Der letzte Satz“ (2020) seine Wittgenstein-Prosa innerhalb von zwei Monaten sehr schnell geschrieben. Entstanden ist als „Mischung aus Fakt und Fiktion“ das Porträt eines schrillen Charakters, der seinen Ruf als depressiver Exzentriker sehr wohl zu bedienen wusste und am Ende seines Lebens als Botschaft an seine Freunde hatte weitergeben können: „Sagen Sie ihnen, dass ich ein wunderbares Leben gehabt habe.“ In Seidels Roman flüstert er den Satz in Mrs. Bevans Ohr – berührend genug, dass viele aus dem Publikum ihn nachlesen wollen, indem sie das Buch erwerben.