Schenkel: Sehr geehrter Baron Münchhausen, ich freue mich, dass Sie sich Zeit für ein Interview mit mir nehmen. Und das, obwohl die kleine Stadt, in der Sie gelebt haben, Sie dieses Jahr noch stärker als sonst einbindet.
Münchhausen: Bodenwerder hat ja auch nur mich. Und den Weserradweg, der durchgeht.
Schenkel: Ich jedenfalls bin ein großer Bewunderer Ihrer Geschichten. Wie da ein Torgatter Ihr Pferd geteilt hat und Sie mit dem vorderen Teil des Tieres zur Tränke geritten sind. Und der hintere Teil sich mit den Stuten auf der Wiese vergnügt hat…beim Lesen habe ich mir auf die Schenkel geklopft.
Münchhausen: Auf die Schenkel geklopft – köstlich!
Schenkel: Köstlich? – Oh! – Was ich Ihnen, werter Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen, damit sagen wollte: schon seit meiner Jugend bin ich ein großer Verehrer Ihrer Person und Ihrer wunderbaren Lügengeschichten.
Münchhausen: Person. Wen meinen Sie da eigentlich?
Schenkel: Wie? Na Sie!
Münchhausen: „Sie“ – das sind immerhin zwei! Einmal ich, das Geburtstagskind, und dann Nummer zwei, die literarische Figur. Letztere hat mit mir nicht viel gemeinsam.
Schenkel: Wie? Können Sie das bitte erklären?
Münchhausen: Junger Mann, um einmal Ihre Froschperspektive zu verlassen, empfehle ich Ihnen ein gerade veröffentlichtes Buch einer indirekten Nachfahrin von mir: Anna von Münchhausen: Der Lügenbaron. Mein phantastischer Vorfahr und ich.*
Dort haben Sie es noch einmal schwarz auf weiß: Ich bin der „Erfinder des Storytelling“, ein „begabter Fabulierer“. Mit meinen Übertreibungen wollte ich lediglich junge Aufschneider bloßstellen, wenn diese mal wieder meinten, mit ihren Kriegs- und anderen Erlebnissen furchtbar angeben zu müssen. – Und die Geschichte mit dem Pferd, die werden doch noch nicht einmal Sie geglaubt haben.
Schenkel: Nein, natürlich nicht. Die Story ist äußerst unterhaltsam, Fiktion, wie ich sie liebe. – Nur, Herr Baron, warum sind Sie so ungehalten?
Münchhausen: Das wären Sie auch, würde man Sie zum „Lügen-Schenkel“ machen, frei nach dem Motto: Lügen haben kurze Beine. – Lesen Sie es bei Anna von Münchhausen noch einmal nach – ich muss sagen, die Dame ist eine wahrlich gute Journalistin, die mit vielen Experten meines bewegten Lebens in ihrem Buch spricht – ich selbst habe doch diese Geschichten nie aufgeschrieben. Und manch eine, wie die mit dem Ritt auf der Kanonenkugel, stammt auch gar nicht von mir.
Schuld ist dieser gierige Rudolf Erich Raspe. Dieser sogenannte Gelehrte war ein Dieb. Erst hat er als Leiter des Münzkabinetts im Museum Fridericianum Kassel Münzen geklaut und ist damit nach London geflohen. Und dann hat er mir meine Geschichten gestohlen, hat sie in England veröffentlicht und das Geld dafür kassiert. Und das Gemeinste, er hat so getan, als würde ich das erzählen. Ich, Münchhausen. – Und damit nicht genug: Gottfried August Bürger veröffentlichte die Geschichten dann auf Deutsch und behauptete ebenfalls, ich habe sie selbst verfasst. Zusammengeklaut haben die beiden alles, von mir und anderen! Und mich hat man von nun an auf die literarische Figur mit meinem Namen reduziert.
Schenkel: Nun, wahrlich nicht schmeichelhaft, aber immerhin berühmt sind Sie geworden.
Münchhausen: Junger Mann – das sagt Ihnen jetzt ein sogenannter Lügenbaron – ich kann’s kaum glauben! Ihre Zunge schnappt wirklich nach allem, was an Ihnen vorbeifliegt… Lesen Sie doch nach: Diese Figur wurde mein Unglück! Schlimm genug, dass meine zweite Frau, die Bernhardine, nur auf mein Geld aus war, die Scheidung wurde die Hölle. Ihr Winkeladvokat hat mich bei Gericht als „Lügenbaron“ tituliert, der andere Münchhausen wurde mein Ruin …
Schenkel: Oh, das tut mir leid –
Münchhausen: Und nicht nur ich hatte unter dieser Figur zu leiden, Anna von Münchhausen trägt in dem Büchlein eine Menge Erlebnisse von Nachfahren zusammen, denen der Name immer wieder zum Abenteuer wird. – (Pause) – Um ehrlich zu sein, amüsant finde ich diese Geschichten schon.
Schenkel: Ach, lieber Baron, so gefallen Sie mir schon besser …
Münchhausen: Ja, so war das immer. Wie es Euch gefällt. Wer hat hier das Münchhausen-Syndrom?
Schenkel: Könnten Sie –
Münchhausen: Verehrter junger Mann, der Konjunktiv ist in meinem Leben schon lange abgeschafft, denn er ist, wie erläutert, zum Indikativ geworden. Hören Sie auf zu quaken und lesen Sie erst einmal das Buch dieser Frau! Sie werden aufgeklärt und unterhalten, glauben Sie mir!
* Anna von Münchhausen: Der Lügenbaron. Mein phantastischer Vorfahr und ich, Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2020, 125 Seiten, 15 Euro