Im Larvenstatus lebt die Maifliege lange im Flussgrund, bis sie durch die Wasseroberfläche stößt in ihr kurzes Leben: eine Beute der Fische vor Tanz und Paarung. Neue Larven schlüpfen „und harren aus, bis ihr Tag gekommen ist“. Gut für den Angler Matthias Jügler, denn die Maifliege lockt Fische an. Und eine bessere Metapher für seine im Roman „Maifliegenzeit“ erzählte Geschichte hätte er als Autor nicht finden können. Denn das Fazit in der Mitte des Buchs stimmt eben auch für die literarische Aufdeckung einer Schattenseite der DDR-Vergangenheit: „Aber nur, weil sich etwas dem Blick so konsequent entzieht, heißt das nicht, dass es nicht existiert“: Der vorgetäuschte Säuglingstod mit anschließender Adoption durch fremde Eltern. Der 39-jährige, in Leipzig lebende Matthias Jügler erhält am 22. September, 11 Uhr, auf Burg Schwarzenstein für seinen Roman „Maifliegenzeit“ den Rheingau-Literatur-Preis 2024.
Dem Paar Hans und Katrin wird in Naumburg ein Kind geboren, das kurze Zeit später im Jenaer Kinderkrankenhaus für tot erklärt und von den Eltern begraben wird. Katrin hegt Zweifel; ihr Mann, Ich-Erzähler des Buchs, unternimmt nicht viel mehr, als dass er an der Unstrut liebend gern angeln geht. Viele Kapitel über diverse Fischarten, Köder, Fangtechniken fügt Matthias Jügler ein. Am Fluss sitzend und wartend erholt sich der Erzähler vom aufregenden Verdacht, dass der Säuglingstod nur hätte vorgetäuscht sein können. Seine Frau hat sich getrennt und ist schon gestorben, als sich nach 40 Jahren der totgeglaubte Sohn beim Vater meldet.
Soweit zur unerhörten Begebenheit, die offenbar nicht nur Fiktion ist. Die Jury schreibt zur Preisvergabe: „,Maifliegenzeit‘, der (Roman), der einen realen Verdachtsfall zur Vorlage hat, macht einen Schatten der Zeitgeschichte sichtbar, aber erhebt nicht den Anspruch aufzuklären, was damals geschah. Die Literatur bleibt bei sich: als Möglichkeitsraum.“
Die Leben, wäre das Kind nicht für tot gehalten worden, hätten einen anderen Verlauf genommen als unter der existenziellen Kränkung, der Trauer, der müden Abkehr in die Stille der Natur. Doch auch das reicht noch nicht für die insgeheime Wucht dieses Romans. Als Vater und Sohn sich nach langer Zeit begegnen, liegen sie sich eben nicht beglückt in den Armen – sondern der Sohn klagt an: Seine Eltern hätten ihn einfach weggegeben „wie ein Haustier, das einem nicht mehr gefällt“. Der Vater erkennt, dass der Sohn die Lüge für Wahrheit hält – und weiß nicht viel mehr als Anglergeduld dagegenzusetzen. Sie wird enttäuscht. In symbolischer Szene hat der Erzähler den größten Fisch am Haken und verliert ihn wieder… Und doch endet der Roman nicht völlig in Verzweiflung. Der Sohn will schließlich doch mit dem Vater angeln gehen – und wieder ist Maifliegenzeit.
Matthias Jüglers Roman hat ein Nachspiel. „Dieser Roman basiert auf historischen Begebenheiten“, so steht’s im Nachwort. „Seit einigen Jahren ist nachgewiesen, dass es in der DDR Fälle von vorgetäuschten Säuglingstod gab.“ Eine „Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR“ fordert umfassende Aufklärung. Etwa 2.000 Verdachtsfälle soll es geben. Dem hatte die frühere Landesbeauftragte für Aufarbeitung der SED-Diktatur in Sachsen-Anhalt widersprochen: Es gebe keine wissenschaftlichen Belege. Betroffene freilich hegen Misstrauen und suchen weiter nach ihren verlorenen Kindern. Die Kontroverse aber ficht Matthias Jüglers sehr behutsam erzählten Roman in seinem „Möglichkeitsraum“ nicht an.
Interview Matthias Jügler zu seinem Roman „Maifliegenzeit“:
„Das Angelzeug kommt mit …“
Matthias Jügler erhält für seinen Roman „Maifliegenzeit“ am 22. September den Rheingau-Literatur-Preis 2024. Er spricht über sein Buch, die Debatte, die es ausgelöst hat und über die Auszeichnung.
Ist der Romantitel „Maifliegenzeit“ eine bewusste Camouflage für das Ungeheure fälschlich erklärten Säuglingstod in der früheren DDR, worüber Sie erzählen?
Ja und Nein. Die Maifliege als Eintagsfliege kann auch Symbol sein für das Kind, das da erst einmal weg ist.
Das Angeln dient der erzählenden Hauptfigur zur Beruhigung. Wozu noch?
Die Welt der Fische bietet überhaupt eine Menge literarischer Allegorien.
So auch die, wie mit Ihrem Roman nach Erscheinen umgegangen wurde, als er ein Tabu brach und sich eine öffentliche Debatte eingefangen hat?
Das kann man so sehen. Ich war schon sehr überrascht. Ich habe mich gefühlt, als ob ich in einen Zwei-Fronten-Krieg hineingeraten sei: Einerseits eine Art öffentlicher Gegendarstellung, andererseits Eltern, die sich bestätigt fühlten.
Wie gehen Sie mit dem öffentlichen Druck um?
Ich habe mir sehr schnell eine dicke Haut zugelegt. Ich brauche keinen Anwalt und bin kein Don Quixote. Ich bin Schriftsteller.
Was macht Literatur aus?
Literatur ist Geschichtenerzählen, ein Figurenexperiment, eine Versuchsanordnung.
Sie angeln, Sie schreiben – wie beeinflusst das eine das andere?
Wenn nicht beides, würde mir eines fehlen. Angeln ist im Vergleich aber einfacher – Schreiben ist Kopfarbeit.
Was bedeutet Ihnen der Rheingau-Literatur-Preis?
Er bedeutet mir wirklich viel und bestärkt mich, die Kontroverse nicht zu scheuen. Ich habe mich geradezu diebisch gefreut, gerade als Ostdeutscher literarisch so wahrgenommen zu werden.
Bringen Sie zur Preisverleihung Ihr Angelzeug mit?
Ja, es kommt in den Koffer.
Fotos: Franziska Hauser/Melina Wörsdorf
Der Buchtitel nennt das Objekt, worüber erzählt wird: „Die Treppe“, geschrieben von Wolf von Lojewski, dem prominenten Journalisten, Fernsehmoderator, Dokumentarfilmer und Sachbuchautor. Und obwohl es diese Treppe tatsächlich gibt am Wohnort des Autors in Georgenborn als Überbleibsel des ehemaligen Schlosses Hohenbuchau, informiert er diesmal (nach seinen Büchern über Amerika und Ostpreußen) nur zum Teil über die historischen Fakten der verschiedenen Schloss-Besitzer und -Besitzerinnen – hauptsächlich schildert Wolf von Lojewski auf seiner „Treppe“ einen „Sommernachtstraum“, den er dort erlebt, beziehungsweise ersponnen hat.
Und wenn der Traum in seiner schriftlichen Form Literatur wird, erklärt Wolf von Lojewski, was er sich vorgenommen hat: „Es ist das Wesen von Literatur, in fremden Leben herumzukramen.“ In der Literatur der „Treppe“ tut er es, kramt aber vor allem in seinem eigenen Leben herum und holt zunächst aus ihm etwas heraus, das dem Traum einen stabilen Rahmen gibt.
Die Tatsache: Wolf von Lojewski war im Sommer 2011 von Gemeindevertretern in Georgenborn gebeten worden, zur Einweihung der Treppe als restauriertem Schloss-Rest eine Rede zu halten. Das tat er und schildert im Buch die Umstände.
Die Fiktion: Nach der Feierlichkeit wandelt sein Alter Ego durch den Schlosspark und gerät plötzlich hinein in eine verstörende Phantasmagorie. Ob es nicht doch zu viel Riesling mit anschließendem Grappa war, dass er nun im Scheinwerferlicht eines Drehorts steht, auf dem das Schloss wieder zum Leben erweckt wird und er am Filmgeschehen teilnehmen soll? Nein, denn der Autor träumt ja wirklich, dass da auf dem Platz des früheren Schlosses die verschiedenen Etappen der Hohenbuchau-Historie nachgespielt werden. Und mehr als das: Im Verlauf des Traumspiels wird die Frage laut, warum die menschlichen Schicksale in diesem Schloss allesamt nicht glücklich verlaufen waren und wer verantwortlich sei für Unglück, Unheil und Ungerechtigkeit auf der Welt.
Die Utopie: Ein Computerspiel könnte doch im Rückgriff korrigierend in schlingernde Lebenslinien eingreifen, meint die Versuchung.
Nein, entschieden wendet sich das Erzähler-Ich gegen Gedankenspiele dieser Art und – wie kritisch es auch sich selbst gegenüber verhält – sich lieber einer göttlichen Instanz zu. Gott kommt vor. In schöner Zurückhaltung. Und so hört sich der Erzähler auf die Frage „Ist alles, was wir Menschen auf dieser Welt erleben oder erleiden, der Wille Gottes?“ – nicht ohne Erstaunen – antworten: „Ja!“
Wolf von Lojewski schreibt mit brillant funkelnder Fantasie die Geschichte des Schlosses Hohenbuchau und gleichzeitig eine Art skeptisch vorgetragenes Lebensresümee. Und dies in einem Tonfall, der auch eine Antwort gibt, wie Welt zu ertragen wäre: mit sehr viel Ironie bis zu ihrer höchsten Form der Selbstironie, das probateste literarische Mittel gegen Depression, Zweifel und Verzweiflung.
„Die Treppe“ ist nicht nur – wie abgebildet auf dem Cover – ein steinerner Zugang zu einem nicht mehr vorhandenem Schloss, sondern in diesem Buch ein flexibler zum Denken und zur träumerischen Fantasie seines Autors Wolf von Lowjeski.
Auf dem Literaturfestival des Fördervereins Literaturhaus hat Wolf von Lojewski am 21.06. sein Buch vorgestellt. Schauspieler Uwe Kraus hat ausgewählte Passagen gelesen. Es war ein schöner Erfolg.
Wolf von Lojewski: „Die Treppe. Ein Sommernachtstraum“. 140 Seiten. 14 Euro. Zu beziehen über www.asku-presse.de oder in jeder engagierten Buchhandlung.
Am Nikolausabend, 6. Dezember 2023, waren Mitglieder des Rotary-Clubs Wiesbaden-Kochbrunnen zu Gast im Literaturhaus. Clubmitglied und Vorsitzende des Fördervereins Literaturhaus Wiesbaden, Rita Thies, hatte eingeladen, die großbürgerlichen Räumlichkeiten zu bestaunen. Nach ihrer Vorstellung des Hauses und der Begrüßung durch die derzeitige Club-Präsidentin Christine Rother stellte Buchhändlerin Jutta Leimbert (Buchhandlung Vaternahm) im voll besetzten Roten Salon anschaulich ihre Lieblingsbücher der Saison vor, die im Anschluss auch ihre eigenen Liebhaber*innen fanden. Andere bildeten derweil Schlangen vor dem reichhaltigen Fingerfood-Büffet, bestellten Wein und Wasser an der von Fördervereins-Mitgliedern besorgten Theke und alle sammelten sich dann im Café an adventlich dekorierten Tischen zu anregendem Gespräch. Rund 40 Personen erlebten einen stimmungsvollen Abend, an dem ein Auftritt des Clubmitglieds Manfred Kühn traditionsgemäß nicht fehlen durfte. Der ältere Herr erinnerte als Pfarrer i.R. an die Entstehung und Entwicklung des Nikolaus-Kults innerhalb des Christentums und erhielt für seine Rede viel Beifall.
Ohne zu überlegen, steigt Harriet in den Geländewagen, hievt die alte Frau aus der Feuergefahr hinein (der Wald brennt) und rast mit ihr zum nächsten Krankenhaus. Sie kommt heil an. Harriet aber kann überhaupt nicht Auto fahren. Wie reimt sich das zusammen?
Eines der vielen seltsamen Puzzleteilchen im Roman der Wiesbadener Krimi-Stipendiatin von 2019 Zoë Beck; aus „Memoria“ liest sie in einer Veranstaltung des Fördervereins Literaturhaus in den neuen Räumen der Wiesbaden Stiftung am Michelsberg. Premiere für das Buch und die Institution: Wenige Tage zuvor ist sie in ihr gläsernes Bürgerbüro eingezogen, seit wenigen Tagen ist es als Zoë Becks zehnter Roman im Suhrkamp-Verlag erschienen. Ans Erstere erinnert Stiftungs-Geschäftsführerin Alrun Luise Schößler nach der Begrüßung durch Lutgart Behets-Oschmann für den Vorstand des Fördervereins und Moderatorin Kim Engels erinnert ans Letztere: Zoë Becks Lesetour-Auftakt im Stiftungs-Raum. So kurz die Zeitspanne für Erinnerungen hier, so fast lebenslang für die Hauptfigur im Buch, das „Erinnerung“ in seinem Titel trägt.
Die mehrfach ausgezeichnete Krimi-Autorin und Filmsynchronregisseurin, Übersetzerin und Verlegerin Zoë Beck hat sich intensiv mit den Mechanismen von Erinnerungen beschäftigt, wie sie im Gespräch mitteilt. Wie manipulierbar sind sie? Wie viele falsche tragen wir mit uns herum? Wie können wir unliebsame löschen? „Das macht doch kaputt.“ Während der Corona-Zeit hat die Autorin über „Depression“ („womit ich mich auskenne“) 2021 ein Sachbuch geschrieben, in diesem Jahr nun einen ,Thriller‘ („irgendwas muss ja vorne draufstehen“) über Vorkommnisse der Vergangenheit, die irritierend bruchstückhaft, aber ohne bewusste Erinnerung aufleuchten. Eine Klavierausbildung verbindet die Autorin mit ihrer Hauptfigur Harriet. Zoë Beck gab die Pianistinnen-Karriere auf, weil sie das gewünschte Glamour-Frauenbild in der klassischen Musikbranche ablehnte – für Harriet reicht es gerade noch zum Nebenberuf einer Klavierbauer- und stimmerin. Und also liest die Autorin auch die „Opern-Ouvertüre“, wie Moderatorin Kim Engels das erste „Memoria“-Kapitel nennt.
Ein Zug hält, der Wald brennt, ein Haus ist in Gefahr, seine Bewohnerin auch, Harriet rettet … „„wie hast du mich gefunden? Du darfst gar nicht hier sein“, sagt die alte Frau. Kennen sich die beiden? Woher und warum? Harriet weiß es noch ebenso wenig, wie sie in der Situation den rettenden Wagen fahren konnte. Wenn der Vater sich nicht mehr erinnert, dann liegt es an dessen Demenz. Harriet, die in einem entvölkerten Banktower in Frankfurt wohnt, besucht ihn in München, wo er die Tochter nicht mehr erkennt. Als aber ein anderer Mann sie an der Isar erkennt, flippt sie aus und schlägt ihn nieder.
Sie erinnert sich: Hatte sie früher hier etwas Schlimmes verbrochen? Dem will sie auf den Grund gehen. Ihre Aufklärung gelingt – „fast“, sagt die Autorin. Und auch fast nur sind die beiden am Podium zu Ende. „Noch eine Kostprobe“ erbittet sich die Moderatorin, und Zoë Beck liest dann eben noch den Ausschnitt, als Harriet als Klavierstimmerin ins Haus einer wohlhabenden Familie kommt, die Tochter aber gar nicht, wie der Vater wollte, Klavierspielen lernen will. Dann wird das Buch zugeklappt.
Fotos: Lutgart Behets-Oschmann
Am 19. November wird im Theater Basel der Schweizer Buchpreis 2023 verliehen. Demian Lienhards Roman „Mr. Goebbels JazzBand“ ist unter den fünf nominierten Büchern. Im September war der Autor, in Bern geboren und heute in Zürich lebend, Gast des Fördervereins Literaturhaus Wiesbaden und las aus seinem neuen Buch im Roten Salon. Sein vorangegangener Debütroman „Ich bin die, vor der mich meine Mutter immer gewarnt hat“, hatte 2019 schon den Schweizer Literaturpreis erhalten.
Demian Lienhard kann durchaus auch Schwyzerdütsch, obwohl wir es ihm in Wiesbaden nicht anhören. Er, Mitte 30, weiß eine gewisse Parallele zwischen seinem akademischen Beruf als promovierter klassischer Archäologe und seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu ziehen: Er gräbt im Roman „Mr. Goebbels JazzBand“ ja die wahre Geschichte einer in Nazi-Deutschland vom Propagandaministerium etablierten Swing-Band für den englischsprachigen Rundfunksender „Germany Calling“ aus – mit seinem damals berühmten Moderator Wilhelm Fröhlich, alias William Joyce, Gründer der Faschistenbewegung in England und den entsprechenden Musikern. Diese Erzählung fußt auf tatsächlichen historischen Ereignissen.
Was Demian Lienhard hinzuerfindet, ist die Art und Weise, wie diese Erzählung ihr Publikum findet. Jetzt treibt er ein sehr raffiniertes Spiel, denn der, der im Roman über Mr. Goebbels Jazzband einen Roman schreiben soll, ist wiederum, wie Lienhard selbst, ein Schweizer Autor – im Unterschied zu ihm aber nicht eben sehr erfolgreich in der Wahrnehmung seines Auftrags. Unter einem Decknamen schreibt der überdies. Und was dieser Fritz Mahler denn doch seiner Nachwelt hinterlassen hat, kommt wiederum auf verschlungenem Wege ins Licht eines Verlags, nachdem ein Demian Lienhard das Manuskript aus dem Fundus fischen muss – angeblich von einem Verwandten verfasst. Dazu gibt es im Nachwort eine subtil verwirrende Erklärung eines Staatsarchivars zuzüglich einer Schlussbemerkung seitens eines Herausgebers namens Demian Lienhard, womit die wahre Autorenschaft eher verschleiert, denn aufgedeckt wäre.
Einmal von der Wiederentdeckung der zu Propagandazwecken gegründeten Jazzband in NS-Zeiten abgesehen, besticht Lienhards Roman durch die in ihm diskutierten Parallelen und Unterschiede zwischen Propaganda und Literatur und vor allem durch das Spiel mit der Urheberschaft dieses Romans, der seine Poetik im Werk selbst nicht nur benennt, sondern sie gleichzeitig auch genauso ausführt. Ich darf, als Moderatorin dieser Lesung im Literaturhaus, ihm den Schweizer Buchpreis herzlichst wünschen.
Klosterfrau Hildegard von Bingen, 12. Jahrhundert, war Gelehrte, Mystikerin, Briefpartnerin und Buchautorin – und wird zur Referenz für eine Digitalnative des 21. Jahrhunderts, wie auch Emily Dickinson, mit der die Ich-Erzählerin ihren Rückzug aus der Gesellschaft teilt. Für die amerikanische Lyrikerin aus dem 19. Jahrhundert war es noch eine aus Menschen bestehende, für Jenifer Beckers Figur, drei Jahrhunderte später, die der Social Media. Deren Sehnsucht gilt einer Ruhe in Abgeschiedenheit, jedoch ohne kreatives Resultat (wie es die Frauen aus der Vergangenheit vorlebten). Das ist das Dilemma in Jenifer Beckers Debütroman „Zeit der Langeweile“. Denn Ich-Figur Mila Meyring will ihre digitalen Spuren im Internet löschen, ihre Sucht nach elektronischen Infos und Chats in den sozialen Netzwerken bekämpfen, ihre Abhängigkeit von allen möglichen Zugängen und Kontakten via Computer beenden und erschöpft ihre Energie dabei. Das Ergebnis: „Zeiten der Langweile“.
Autorin Jenifer Becker haben Literaturinteressierte auf dem Festival des Fördervereins Literaturhaus in diesem Sommer kennengelernt als Referentin zum Thema „KI und Literatur“. Die promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturinstitut der Uni Hildesheim hatte mit ChatGPT bearbeitete Texte mitgebracht – Fazit: In Literatur sind menschliche Fantasie und Schreiberfahrung künstlicher Intelligenz (noch) stark überlegen. Und in ihrem ersten, gerade erschienenen Roman schreibt sie nun, wie sich eine Frau Mitte 30, aus dem Krakengriff des digitalen Urwalds, in den sie sich tief hineinbegeben hat, befreien will.
Vieles im Buch wird auf eigenen Erfahrungen beruhen, heißt auch: die Sprache ist durchzogen von Begriffen der Millennial-Generation von TikTok, Instagram, Netflix, Spotify, etc. bis Meme, nutzt Abkürzungen, wie FOMO, Detox, TERF und HDGDL – nicht nur Hildegard von Bingen hätte ein Wörterbuch gebraucht! Hier ist das Vokabular der digital Sozialisierten eingesetzt für die Google-Recherche nach den eigenen Spuren im Netz, die es auszulöschen gilt. Die Arbeit ist lang, aufregend und deprimierend bis zur Depression. Kleinteilig schildet die Ich-Erzählerin ihre Tagesabläufe im Corona-Jahr 2021 in Berlin auf der Suche nach der „Real-Life-Reset“-Taste zwischen der Angst, von anderen gecancelt zu werden und der Sehnsucht nach einem wieder analogen Leben. Wie eintönig das wird, wird ihr freilich auch immer bewusster. Immerhin – die hektischen Versuche, ihren eigenen digitalen Fingerabdruck aufzuspüren, um ihn zu vernichten, hält die Ich-Erzählerin weiterhin am Rechner fest. Sie ist mit der Aufgabe ihrer Social-Media-Kontakte eben nicht mehr online erreichbar und fühlt sich entsprechend abgehängt. Die Kontakte zum misanthropischen Bruder und zur Offline-Oma auf dem Land helfen wenig. Der Abtauch-Versuch aus dem digitalen Netz kostet Lebenskraft – allein mit sich weiß Mila nicht, was zu tun.
Jenifer Becker beschreibt eindrücklich die Abhängigkeit einer Digital-Generation – und realistisch deren Unüberwindbarkeit. „Ich wusste, dass es kaum möglich war, in einer strahlenfreien Zone zu leben …Genauso unmöglich war es aber auch, in dieser Welt zu leben …“, in der Hildegards von Bingen Engel-Vision sich in eine Drohne verwandelt. Das elektronische Auge ist allgegenwärtig.
Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile“. Hanser Berlin. 240 Seiten. 23 €.
Und hinter der Theke steht … zu allererst und immer wieder Peter Bingel, „seines Zeichens“, wie Rita Thies immer zu sagen pflegt: „mein Mann“. Der im Vorfeld nicht nur unermüdlich Literaturfestival-Plakate allüberall in der Stadt geklebt und damit den Weg in den Burggarten Sonnenberg bepflastert, Flaschen geschleppt und die Küche im Kabäuschen auf dem Gelände sorgfältig eingerichtet hat – sondern von früh bis spat aufrechtstehend den besten Kaffee von Welt gekocht, von Vereinsmitliedern gebackene und mitgebrachte Kuchen aller Art fachmännisch in Portionen aufgeteilt, auf Tellerchen angeboten, mit Gabeln versehen hat – mit Zucker und Milch dazu, wo und wenn nötig. Überdies hatte er ein wachsames Auge auf den vom städtischen Amt wegen „Waldbrandgefahr“ gebotenen Wassereimer draußen vor der Tür und auf die Spendendose auf dem Thekenrand, wusste stets den Preis für die ausgegebenen Köstlichkeiten und dirigierte oft genug ein Rückgeld in die Dose auf dem Thekenrand um. Wo nach 18 Uhr die Weinflaschen standen, wusste er auf jeden Fall auch und beherrschte am Abschlusstag die hohe Haltung beim Einschenken des perlenden Txakolí aus San Sebastián aus dem Effeff. Er hatte sie häufig einzunehmen.
Guten und regen Beistand in der Küche, fürs Anrichten und Abservieren, Spülen, Abtrocknen und Abstellen des Geschirrs hatte er von fleißigen Händen, die u.a. Iris Blaul, Rosa Winheim, Gabi Ostermaier und vielen Vereinsmitgliedern mehr gehörten. Vielen Dank für Eure Hilfe!
Text: Viola Bolduan
„… und nächstes Jahr Maschinenprosa?“ KI und Literatur
„Die Sonne senkte sich am westlichen Horizont und tauchte die australische Wildnis in warmes orangefarbenes Licht.“ Soweit der Beginn des Textes „Alpha Centauri in Ewigkeit“ – ein Beispiel aus der gemeinsamen Produktion von Autorin Jenifer Becker und ChatGPT (Generative Pre-Trained Transformer: sprach-und textbasierter und -trainierter Chatbot), das die Literaturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt „Kreatives Schreiben mit KI“ am Literaturinstitut Hildesheim auf dem Literaturfestival vorstellt. Andreas Mach liest einen Text über ein im australischen Outback verlorengehendes Paar, der formal linear verläuft mit vielen vagen Adjektiven, aber durchaus stupenden Komposita. Jenifer Becker hat ChatGPT heftig prompten (fordern) müssen („55 enggesetzte Seiten Dialog mit ChatGPT für 5 Normseiten Kurzgeschichte“), bis sie als Autorin halbwegs mit dem Resultat zufrieden sein konnte. Mit weniger Einfluss der Autorin greift der Text „Alpha Centauri in Wiesbaden“ so tief in die Klischeekiste, dass das Publikum heftig lachen muss. Warum ChatGPT nicht mehr kann, als eben aus den Tiefen der ihm zur Verfügung stehenden Text-Referenzen nach einer nächstmöglichen und wahrscheinlichen Weiterführung zu suchen, erklärt IT-Experte Wolfram Brandes, der darüber hinaus auf Probleme der Urheberschaft eines mit ChatGPT generierten Textes aufmerksam macht.
Ergebnis: Für manche formelle Schriftlichkeit mag ChatGPT hilfreich sein – an Literatur stößt sich KI eine blutige Nase. Die Metapher würde KI übrigens nicht verstehen … und auch keinen Spaß. Deshalb hat Jenifer Becker ihren Debüt-Roman auch ganz eigenständig, ohne KI, geschrieben. „Zeiten der Langeweile“ kommt im August heraus und handelt davon, wie es einer Frau ohne jeglichen digitalen Zugang ergeht. Nämlich wie? Darüber später, wenn der Roman vorliegt.
Text: Viola Bolduan
„Cox oder Der Lauf der Zeit“ im Regen
Die ersten Tage des Literaturfestivals 2023 im Burggarten Sonnenberg hatten die Regenwolken noch vor sich hingeschoben, bis sie Samstagabend dann doch aus ihren Nähten platzen. Unterm Schirm muss Moderator Christoph Nielbock seine Gäste auf der Bühne in Empfang nehmen: Musikerin Li Yi mit ihrem chinesischen Instrument der Guzheng (Tafelzither), zwei Chinesinnen, die im Kostüm der chinesischen Kaiserzeit des 18. Jahrhunderts auftreten und Hanns Jörg Krumpholz, der aus Christoph Ransmayrs Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ lesen sollte. Der Roman erzählt die Geschichte des englischen Uhrmachermeisters Alister Cox, der von Kaiser Qianlong ins Reich der Mitte eingeladen wird, für ihn eine Ewigkeits-Uhr zu bauen. Dem Briten begegnet eine fremde Welt mit all ihren Schrecklichkeiten und Schönheiten. Christoph Nielbock informiert über die historischen Hintergründe, Klänge auf der Guzheng lassen Geheimnisvolles erahnen, und Hanns Jörg Krumpholz liest Passagen aus dem Roman derart akzentuiert und fesselnd, dass selbst der Regen niederkniet – dort aber auch länger verharrt. Ein nicht zu entmutigendes Publikum weicht unterdessen unter die großen Schirme aus, knöpft die Jacke zu, zieht den Schal enger und lauscht gebannt.
Text: Viola Bolduan
Drei Fragen an …
Victoria Belim, ukrainische Autorin zu ihrem Roman „Rote Sirenen“, in dem sie von ihrer Familie erzählt, die das Schicksal ihres Urgroßonkels verschweigt, der in den 1930er Jahren verschwunden ist. Als Haus der „roten Sirenen“ ist das frühere Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes bekannt.
Ich hatte nicht gewusst, dass die Traumata der sowjetischen Vergangenheit so tief sitzen. Die Sowjetunion hatte mit uns ein soziales Experiment veranstaltet, das die Gesellschaft politisch wie auch privat völlig dominiert und eingeschüchtert hatte.
Ziel meines Romans ist, dass er den Kontext verständlich macht, aus dem heraus ein Freiheitsstreben der Ukrainer*innen entstanden ist. Er möchte die bisher leergebliebenen Stellen in der Geschichte unseres Landes füllen.
Viele Menschen in der Ukraine lesen. Es gibt geradezu Hunger nach Literatur. Viele schreiben auch. Allerdings sind die Papierkosten sehr hoch, so dass die Verlage weniger Bücher veröffentlichen können. Ich habe mein Buch in Englisch geschrieben und es ist bereits in 15 verschiedene Sprachen übersetzt worden – in der Ukraine aber konnte es bisher noch nicht erscheinen.
Die Fragen stellte Viola Bolduan.