Im polnischen Legnica (früher Liegnitz) stehen Grabsteine mit deutschsprachigen Inschriften. Wie sind die dahin gekommen? Die Schüssel im Haus trägt am Boden eine kleine Hakenkreuz-Gravitur. Warum? Fragen wie diese stellte sich die heutige Autorin und Übersetzerin Karolina Kuszyk, als sie in der westpolnischen Heimat aufwuchs. Die Neugier ließ sie nicht los, bis aus den Fragen Recherchen wurde und aus den Recherchen ein Buch. „Poniemieckie“ heißt sein polnischer Titel, erschienen 2019; in der deutschsprachigen Ausgabe (2022) wird „poniemieckie“, wörtlich „ehemals deutsch“, bildhaft fantasievoll übertragen zu „In den Häusern der anderen“. Mit diesem Buch ist die Autorin Gast einer Lesung, veranstaltet vom Quartett: Literaturhaus und dessen Förderverein, Presseclub und Freundschaftsverein Wiesbaden-Wroclaw in der Reihe „Gespräche in der Villa“. Entsprechend dicht gedrängt sitzt ein interessiertes Publikum vom roten bis in den gelben Salon hinein, nach eifrigem Besuch im zum Anlass bewirtschafteten Café.
Moderiert von Stefan Schröder, Vorsitzender des Presseclubs, erzählt Karolina Kuszyk in fließendem Deutsch von ihrer Neugier auf die Vergangenheit ihrer polnischen Heimat, die Deutsche früher als Niederschlesien kannten. Historiker Schröder rekapituliert die Teilungsgeschichte Polen nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sowjetunion (u.a.) die polnischen Ostgebiete vereinnahmte und Polen als Entschädigung deutsche Ostregionen zugeschlagen wurden.
Karolina Kuszyk hat nun untersucht, wie die Zwangsumgesiedelten sich auf neuem Terrain verhielten, die Gebliebenen sich mit neuer Situation zu arrangieren hatten und welche Phasen diese Um- und Eingewöhnung durchlief. Bis 1949, so referiert sie, hatte das „Ministerium für wiedergewonnene Gebiete“ alles Vorgefundene zum Eigentum des polnischen Staates erklärt, das er wieder verkaufen konnte. „Gekauft“ wurde auch – in Wildwest-Manier. Oder aber einfach genommen, geplündert, geraubt. Vor staatlicher Zuordnung von Wohnungen herrschte das Recht des Stärkeren. Banden, Milizen und staatliche Dienststellen vereinnahmten, was sie zu brauchen meinten. Wo noch Deutsche lebten, erfuhren sie, was Polen unter deutscher Besatzung widerfahren war. „Umkehrung des Kriegszustands“ fasst es Stefan Schröder zusammen. Und gleichzeitig: Bitte, keine Erinnerung an den Krieg, also Verheimlichung der Vergangenheit; Vorgeschichte blieb, so Karolina Kuszyk, ein „schambehaftetes Geheimnis“.
Danach herrschte eine Zeit der Stagnation: Die nächste Generation kümmert sich mehr um ihre Zukunft als um die Vergangenheit. Die wieder unbefangeneren Enkelinnen und Enkel hingegen interessieren sich plötzlich dann doch für das kleine Hakenkreuz auf dem Schüsselboden und den deutschen Grabstein auf dem polnischen Friedhof.
Karolina Kuszyks Buch folgt der Aufdeckung deutscher Vergangenheit in polnischer Geschichte anhand zitierter Erzählung und in Form alltäglicher Gegenstände. Da findet sich ein Einmach-Glas, möglicherweise gefüllt mit Marmelade, oder doch vergiftet? Was macht der „Werwolf im Kompott“ oder welches Gewebe sitzt da im Spiritus? Was sucht der deutsche Gast, wenn er im Garten des nun polnischen Hauses gräbt? Wenigstens darf er graben, denn Feindschaftsgefühl und Misstrauen sind gewichen. In Westpolen, so Karolina Kuszyk, habe „jeder Haushalt heute seinen Deutschen“, der dort nun der eigenen Vergangenheit nachspürt. Die Häuser spielen ihre Rolle als private diplomatische Drehtüren fürs Gehen und Kommen und Kommen und Gehen in Gegenwart wie Vergangenheit – gerade, wenn sie die der anderen sind.
Mörikes beständig flatterndes blaues Band („Er ist’s“ – in diesem März 2023 noch immer nicht ganz) und Robert Gernhardts Kant-Torte (…. und er sprach die schönen Worte: ,Gibt es hinterher noch Torte?‘“), keine Ballade über schillernde „Bürgschaft“ oder Ibykus‘ Kraniche, vielmehr Biermann, Wolf und Gottfried Benn, ein Kinderlied und der Abendsegen. „Der ewige Brunnen“ – ein Quell von 1.200 deutschsprachigen Gedichten vom Merseburger Zauberspruch bis Grönemeyer (neu), in den 50er Jahren von Ludwig Reiners als Sammlung begründet, ist von Dirk von Petersdorff, Germanist und Autor, bearbeitet und herausgegeben worden. Am 16. März 2023 war Erscheinungstag des Schmökers durch alle Verse (C.H.Beck-Verlag) und gleichzeitig Petersdorffs 57. Geburtstag. Er feierte ihn im Großen Haus des Staatstheaters gemeinsam mit Publizistin Elke Heidenreich und Marc-Aurel Floros, Pianist und Heidenreichs Lebensgefährten am Flügel. „Happy Birthday“ nach dem Schostakowitsch-Walzer dem Herausgeber zu Ehren. Tusch.
Am Tisch vor heruntergelassenem Gobelin-Vorhang geht es zwischen den beiden Erzählenden, Erklärenden und Lesenden munter zu. Elke Heidenreich, quick und helle auch mit 80, fragt – Dirk von Petersdorff sagt: Die Spannbreite der ursprünglichen Sammlung, die Kapiteleinteilung, das Kreuz und Quer durch die Zeiten sind erhalten geblieben; manch altes Gedicht wurde entfernt, aktuelle Texte sind hinzugekommen. Schillers und Fontanes Balladen, Hölderlins Oden, wenn auch (wie schön!) nicht vorgetragen, sind erhalten geblieben, Lyrik von Frauen, wie Ingeborg Bachmann oder Sarah Kirsch, hinzugefügt. Und womit beginnt die Lesung?
Natürlich mit dem Säulenheiligen der Dichtkunst, Goethe: „Willkomm und Abschied“ (Heidenreich schnalzt das Tempo des Hufgetrappels dazu), flankiert und aus Frauensicht kommentiert von Mascha Kalékos „Das letzte Mal“. Nicht nur die Vortragenden sind in einem ständigen Dialog, auch die gelesenen Gedichte sind’s. Und oft muss Elke Heidenreich gar nicht lesen: den „Abendsegen“ von Adelheid Wette aus „Hänsel und Gretel“ kann sie so gut auswendig wie Eichendorffs „Mondnacht“ und summt mit, wenn Marc-Aurel Floros „Wenn ich ein Vöglein wär‘“ am Flügel anstimmt. Und dann erzählt sie von ihrer Kindheit: Immer dann, wenn es hart zu Hause war, griff sie zum alten „Ewigen Brunnen“, fühlte sich von Gedichten verstanden und getröstet. „Gedichte erklärten mir die Welt.“ Das gelte auch für heutige junge Leute. Einfach mal blättern, entdecken, sich von Inhalt, Form und Klang ansprechen lassen. Das frühere „Hausbuch“ sei nun ein „Haus- und Mitnehm-Buch“, Türöffner für eine Neugier, was Gedichte können und seit den Merseburger Zaubersprüchen schon immer konnten. Moden gibt es auch, je nach Zeitgenossenschaft. Vorlieben ändern sich – doch das Spektrum bleibt, aus dem man aussuchen kann, denn: „Das Gedicht kann alles.“ Auch lachen, wie Vorleser von Petersdorff und das Publikum gleichermaßen mitten im Vers „Die wahre Erkenntnis liegt unbestritten etwa zwischen dem zweiten und dem dritten (Mann), wenn Tucholsky „Die geschiedene Frau“ sprechen lässt. Brutal (mit Rilke-Beispiel), lustig, hermetisch (wie Benn – Elke Heidenreich: „Ich versteh auch nicht alles“), politisch (Wolf Biermann: „Ermutigung“), abstrakt und konkret, kunstvoll und schlicht, können Gedichte sein und machen auf sich Lust, wenn sie, wie von Elke Heidenreich und Dirk von Petersdorff leger, leicht und luftig vorgestellt und mit Marc-Aurel Floros von zart bis furios auf dem Flügel begleitet werden.
„Dû bist mîn, ich bin dîn/des solt dû gewis sîn“ dieser, einer der ersten Verse mittelhochdeutscher Lyrik, macht in seiner Einfachheit den Anfang des Buches.
„Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten“, neu ausgewählt und herausgegeben von Dirk von Petersdorff, C.H. Beck, 1167 Seiten.
„Ins Offene 3“: Literaturfestival vom 28. Juni – 2. Juli im Burggarten
In einer Zeit von Bedrängnis, Krieg und Zukunftsangst setzt der Förderverein Literaturhaus mit seinem Literaturfestival „Ins Offene 3“ vom 28. Juni bis 2. Juli im Burggarten Sonnenberg ein Zeichen für Standhaftigkeit, Furchtlosigkeit und Zuversicht. In beiden Jahren zuvor war es trotz der globalen Spannungen gelungen, viele Menschen zu einem Literaturfestival mit verschiedenen Leseformaten zu gewinnen und zu Gesprächen über die Welt, wie sie ist und wie sie sich in Literatur abbildet. Das gilt es im dritten Jahr fortzusetzen, um zu erfahren, wie Autor*innen auf Realität mit Fiktionen reagieren, die, weil sie furchtlos sind, Furcht auch vertreiben können.
Auf dem Programm stehen u.a. moderierte Autor*innen-Lesungen, Buchvorstellungen in Lesungen freier Wiesbadener Schauspieler*innen, Lese-Tipps von Buchhändler*innen der Stadt, spezielle Angebote für Kinder und Jugendliche, Büchertische zum Stöbern und viel Gelegenheit zum Gespräch bei einem gastronomischen Angebot zu kleinen Preisen. Der Eintritt ist frei. Spenden sind willkommen.
Zu Kooperationpartnern zählen u.a.: Wiesbadener Presseclub, Partnerschaftsverein San Sebastián, Verlag Römerweg …
Das genaue Programm ist noch in Planung. Es wird in Bälde abrufbar sein auf dieser Website.
Schon die Muttermilch war literaturgetränkt. Als leidenschaftliche Leserin ließ Mutter Hoppe ihre fünf Kinder an ihren Lektüren-Erlebnissen nacherzählend, nachfiebernd und -leidend teilhaben. Selbst lesen musste Felicitas Hoppe nicht mehr – die Mutter hatte alles schon vorgeführt und Literatur Teil des Familienlebens werden lassen. So erzählt die produktive, mit vielen Preisen bedachte Wiesbadener Poetikdozentin des Jahres 2005 an Fastnachts-Sonntagabend im Kapellchen „Monta“. Mutig die Einladung von Veranstalterin Kathrin Schwedler am Tag des Fastnachtszugs; ebenfalls Mut beweist das Publikum, aus der trubeligen Stadt auf den Schulberg zu steigen, wie auch die Autorin, in die verriegelte Stadt überhaupt erst einmal hineinzukommen. Und dann passte denn doch ihr Thema: Camouflage und Realität, Text und Welt höchst originell zum Tag der Kostümierung.
Felicitas Hoppe liest aus ihren älteren Büchern, etwas der Traumbiografie „Hoppe“ mit den Verwandlungen des Autorinnen-Ich in ein Mädchen aus dem kanadischen Brantfort (während sie selbst aus Hameln stammt), fiktiv verliebt in den Eishockey-Star Wayne Gretzky, während Felicitas Hoppe selbst später den Bürgermeister von dort kennenlernt, in das Haus der Gretzkys eingeladen wird und es dort genauso aussieht, wie sie es im Buch erfunden hat. „Ein faszinierendes Erlebnis“. Die Eishockey-Montur wiederum gleicht einer Ritterrüstung, die Iwein trägt im Kinderbuch „Iwein Löwenritter“, der aus Langeweile Abenteuer sucht, wie auch Felicitas Hoppe selbst, als sie 1997 aufbricht zu einer viermonatigen Container-Reise („meine schönste, aber nicht empfehlenswert“), die sie in ihrem Roman-Debüt „Pigafetta“ mit dem gleichnamigen Magellan-Begleiter nachfabuliert und die Seenot-Szene liest mit ihren subtil ironischen Rettungsanweisungen für den Bau einer Arche Noah.
Der Name „Pigafetta“ birgt so viel Reiz für die Autorin wie der Klang von „Happolati“, Vermieter aus Knut Hamsuns Roman „Hunger“, für dessen Neuausgabe (erschienen bei Manesse Anfang des Jahres) sie ein Nachwort geschrieben hat. Felicitas Hoppe wird Hamsun wie die Memoiren des Seefahrers Pigafetta doch gelesen haben, obwohl sie aus einem Haus mündlicher Literaturvermittlung stammt, wie sie im Text „Gesammeltes Unglück“ über die erzählfreudige Mutter nun selbst erzählt. Die Bücher selbst brauchte sie damals nicht – „Schreiben war besser“. Doch wenn sich im Schreiben Erlebtes und Erfundenes mischen, die Fiktion größeren Wahrheitsanspruch stellt als Fakten – was kann, was soll man da noch glauben? Aus dem Publikum kommen Fragen. Ja, Felicitas Hoppe weiß, dass sich Parameter durch Fake News verschoben haben, doch Dokumentarisches und Fiktives sind als Genres weiterhin nicht zu verwechseln: Journalismus ist keine Literatur, und der Text eben nicht die Welt. So klar und deutlich Felicitas Hoppe aus ihren Büchern gelesen hat, so freundlich dezidiert begegnet sie ihrem Publikum und weiß, dass Literatur „Begeisterndes“ wie auch „Bedrohliches“ auslösen kann. Was von beidem gewählt wird, liegt in der „Freiheit der Lesenden“. Und sie selbst? „Ich lese, wie ich will.“ Und Felicitas Hoppe erzählt, was sie will – aus dem Stoff der Sagen und Märchen, der erfundenen und historischen Figuren und dabei von sich selbst – versteckt eben in vielen Kostümen.
Susanne Schröters provokante Frage ihres Buchs „Global gescheitert?“ mit Untertitel „Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass“ eröffnete den Neubeginn der Veranstaltungsreihe „Gespräche in der Villa“, moderiert von Presseclub-Vorsitzendem und früherem Kurier-Chefredakteur Stefan Schröder. Vor Putins Angriff auf die Ukraine und nach dem Rückzug des Westens aus Afghanistan geschrieben, kann die Wiesbadener Ethnologin und Professorin an der Universität Frankfurt zwischen beidem durchaus eine Parallele ziehen: „Man besetzt kein kleines Land“, zumal, wenn, wie im Falle Afghanistans, der Westen seine Vorstellung von Rechtlich- und Staatlichkeit einer Gesellschaft implementieren wollte, die doch völlig anders funktioniert. Man hätte wissen können um die patriarchale Familienstruktur unter ihrem Ehrenkodex im rigiden, frauendiskriminierenden Islam der Taliban und dessen zähe Selbstverteidigung, verweist Susanne Schröter auch auf ihre eigenen Studien und nennt es ignorante Anmaßung, westlichen Maßstab anwenden zu wollen, dem selbst ja noch nicht einmal Genüge getan werde.
Die Autorin erläutert ihre Analyse eloquent, das Buch liegt zwar vor ihr, doch wenig nur zitiert sie daraus. Die Fragen des Moderators nutzt sie, um konzentriert und deutlich einige ihrer Themen anzusprechen: „Ich bin sauer, was innenpolitisch passiert“, wenn etwa universitäre Forschungsanträge in ihrem Fachbereich abgelehnt werden, weil das Ergebnis nicht genehm sein könnte und fordert zugleich „mehr Aufrichtigkeit und Demut in unserer Außenpolitik“. Alle Welt belehren zu wollen, wie Demokratie geht, werde von vielen Ländern als nervig empfunden, weil eine Doppelmoral in der Praxis der Demokratien ja erkannt werde. Sie fordert: „Keine Einmischung in innere Angelegenheiten“ (es sei denn die Anwendung der Internationalen Schutzverantwortung): „Völker müssen ihre Freiheit selbst erkämpfen.“
„Zeitenwende“? Die Professorin widerspricht: Die wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands wüchse doch gerade – Energieeinkauf beim Emir von Katar oder im totalitär regierten Aserbaidschan als neue Liefer-Partner sei hochgradig inkonsequent, wie der Transport von Fracking-Gas höchst umweltschädigend, weshalb der Begriff „Zeitenwende“ lediglich Wortgeklingel sei. „Bitte, den Mund nicht so voll nehmen“, fordert die Wissenschaftlerin. Denn, dass Deutschland eine der stärksten Demokratien sei, die Menschen hier in der freiesten und wohlhabendsten Gesellschaft mit kostenloser Bildung leben, betont Susanne Schröter auch. „Einzigartig“ zwar – aber „mit Luft nach oben“. Wie viel, erklärt sie auf den 240 Seiten ihres Buches.
Foto: Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam/Herder-Verlag
Von Viola Bolduan
Vor einer halben Stunde trug man noch Mantel, Schal und Stiefel, als die dicke Traube sich vor dem Einlass zur Kaiser-Friedrich-Therme, das Foyer hindurch bis in den Vorraum hinein zum ersten Leseabend versammelte. Während der Lesungen hängen die Winterklamotten am Haken, liegen Jacken auf den Fliesen und gehen die Leutchen auf Strümpfen durch den Jugendstil-Dekor der Bade- und Ruhe- und Schwitzräume. „Wir haben wesentlich mehr reingelassen, als vorgesehen“, begrüßt Grit Schade die über den Beckenrand baumelnden Beine, auf den Stühlen im Becken Liegende, auf Treppen und Stufen Sitzende, Standfeste an den Rändern und staunend Umherwandernde. Die kleinen Löwenfiguren stört’s nicht. Es werden wohl weit über hundert Leutchen sein, die sich den ersten Leseabend am fremden Ort Samstagabend nicht hatten entgehen lassen wollen. Viele junge Menschen darunter, denen Leseveranstaltungen sonst eher fremd. Jetzt aber haben sie alle Gelegenheit, die über 100 Jahre alte, vor 20 Jahren umfassend sanierte und im Moment aufgrund der Energiekrise für Gäste geschlossene Thermal-Anlage zu besichtigen. Zudem ist es winterkalt und das Innere der Therme verspricht heißen Quellen zu verdankende Frühsommertemperaturen, von hautnaher Begegnung unter den Säulengängen mit figürlicher Ornamentik auf verzierten Fliesen einmal ganz abgesehen. Im Übrigen war der Eintritt frei und versprach die Initiativgruppe um Grit Schade mit Franziska Geyer, Mario Krichbaum und Armin Nufer ein abwechslungsreiches Zuhör-Vergnügen. „Kein Schweiß aufs Buch“ (durchaus auch ein Buchtitel über „Saunageschichten“) ist Motto der Veranstaltung, deren zweiter Aufguss am 28. Januar in derselben Atmosphäre gereicht werden wird – wenn auch ohne Wasser.
Imagination reicht, angeregt durch Franziska Geyers gelesene Leitfäden für die Nutzung einer finnischen Sauna – möge der Saunawichtel mit uns sein. Er begleitet Dreiergruppen ins enge Steindampfbad zur Lesung mit Armin Nufer aus Lutz Ullrichs Frankfurt-Krimi „Tod in der Sauna“, die alle wieder lebend entlassen werden ins Entree an die Quellenbar, wo Mario Krichbaum Ernst Augustins „Schule der Nackten“ vorträgt und -führt, in den hinteren Ruheraum, der komfortable Liegen bietet (wer denn schnell genug eine findet, der Rest hockt oder steht an der Wand), um Grit Schade zuzuhören, die buntbestrumpft Auszüge aus Marianna Kurttos im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung erschienenem Roman-Debüt „Tristania“ vorliest. 1961 bebte auf der Insel Tristan da Cunha, der abgelegenste bewohnten Insel der Welt, die Erde und brach ein Vulkan aus – Anlass für die finnische Autorin über das entbehrungsreiche Leben in unwirtlicher Landschaft, über Frustration und Sehnsucht im Wechsel der Perspektiven zwischen Lehrerin Marthe und ihrem Schüler Jon poetisch bildstark zu erzählen.
Der Beifall fällt mit dem aus dem Frischluftraum zusammen, wo zum Erlebnis einer FKK-Liegewiese aus den Augen eines Mannes, vorgetragen von einem Manne (Mario Krichbaum) durchaus gekichert werden durfte, denn der Mann hat’s mit der Sichtbarwerdung seines Hormondranges schwer, während dem Club der alten Frauen keine Runzel zu peinlich ist. Kleine Drachenköpfe wachen indes über Armin Nufer und beäugen die Leiche des Fitnessstudio-Leiters und -Trainers Klaus Momsen in der Sauna, in der sich die zuhörende Schar auf allen Stufen des Steindampfbads (ohne Dampf und Schuhe) nieder- und manche einnicken lässt – lediglich aus Temperaturgründen, denn Armin Nufer liest packend bis zum offenen Schluss.
Das beste Kurzfilmdrehbuch zum Thema „Krieg und Frieden“ wird gesucht! Um es zu finden, lobt der Förderverein Literaturhaus einen neuen Wettbewerb gemeinsam mit seinem neuen Kooperationspartner exground filmfest aus. Die Ergebnisse werden auf dem Open-Air-Literaturfestival „Zeit-Räume. Zeit-Träume“ in einer Sonntags-Matinee um 11:30 Uhr am Schlusstag des Festivals, 28. August, im Burggarten Sonnenberg in Schauspieler*innen-Lesungen präsentiert. Wer mitmachen will, beachte bitte folgende Bedingungen:
1. Inhalt ist frei wählbar
2. Zeitdauer: maximal 7 bis 10 Minuten
3. höchstens zwei Spielorte
4. möglichst wenige Protagonist*innen
5. einfache Handlungsanweisungen als Ergänzung der den Rollen zugeschriebenen Texte
Einreichung bis spätestens 23. Juli 2022
an: foederverein.wiliteraturhaus@online.de
Für diesen Wettbewerb gibt es keinerlei Altersbeschränkung. Die, die unter 18 Jahren sind, werden gebeten, bei Einreichung des Manuskripts ihr Alter mit anzugeben. Ideen von Kindern und Jugendlichen sind nämlich ausdrücklich erwünscht!
Möglichst viele der Einreichungen sollen live auf dem Literaturfestival vorgestellt werden. Sollte die Veranstaltungszeit dafür aber zu knapp werden, trifft eine Fachjury eine Auswahl. Das Publikum wird entscheiden, welches Kurzfilmdrehbuch filmisch umgesetzt werden soll. Der Film wird dann auf dem exground filmfest gezeigt. Wenn das keine Motivation ist? Vielleicht aber auch dies: dass alle, die sich am Wettbewerb beteiligen, ein Buchpräsent erhalten …
„Zeit-Räume. Zeit-Träume“ lautet das Motto des diesjährigen Literaturfestivals des Fördervereins Literaturhaus vom 24. bis 28. August im Burggarten Sonnenberg. Mit Unterstützung mehrerer Kooperationspartner, wie Presseclub, Frauenmuseum, exground filmfest, Verlagshaus Römerweg, Wiesbadener Buchhändler*innen, Litprom e.V. und Partnerschaftsverein Wiesbaden – San Sebastián lädt der Förderverein alle Interessierte ein, „literarische Entdeckungsreisen 2“ zu unternehmen.
Uns allen ist bewusst, dass Literatur gerade jetzt in schwieriger Zeit, in der Zeit eines Kriegs in Europa, spricht und sind daher gespannt, was Gäste aus der Ukraine zu sagen haben. Eingeladen sind die aus der Ukraine stammende Autorin Svetlana Lavochkina und die gerade von dort nach Deutschland geflüchtete Schriftstellerin Natalka Sniadanko. Aus dem Roman „Graue Bienen“ des Präsidenten des ukrainischen PEN, Andrej Kurkow, wird gelesen. Ferner freuen wir uns u.a. auf die Autoren-Gäste Laura Noll, Oliver Bottini, Dirk Schümer, Carsten Tabel und Fernando Aramburu.
Wenn Steffen Schroeder (Foto auf der Überblickseite) aus seinem druckfrischen Buch „Planck oder Als Licht seine Leichtigkeit verlor“ lesen wird, kann er es, denn er ist als Autor und Schauspieler bekannt. Die meisten der anderen vorzustellenden Romane werden von hier bekannten Schauspieler*innen in Auszügen gelesen, mit u.a. den Stimmen von Franziska Geyer, Ulrich Cyran, Hanns Krumpholz und Katalyn Hühnerfeld. In einer der Sonderveranstaltungen inszeniert der ehemalige Intendant des Staatstheaters Wiesbaden Manfred Beilharz eine szenische Lesung aus Juli Zehs Roman „Unter Menschen“ mit Schauspielerin Viola Pobitschka. In einer anderen liest Eva-Maria Damasko aus Paul McCartneys Band „Lyrics“ mit musikalischer Unterstützung von Peter Richter („Crackers“) und Rainer Zimmermann („Sinfonie“). Des Weiteren wird eine Kinderbuch-Lesung angeboten, und Vereinsvorsitzende Rita Thies lädt zu ihrem Literaturforum ein.
Neu ist der Wettbewerb um ein Kurzfilmdrehbuch zum Thema „Krieg und Frieden“, der gemeinsam mit dem exground filmfest ausgeschrieben wird und dessen beste Texte in einer Matinee vorgestellt werden. Über Details zum Wettbewerb informiert ein eigener Beitrag auf dieser Website.
Mit dem brandneuen Thriller vor dem Hintergrund des Irakkriegs, „Einmal noch sterben“ von Oliver Bottini, wird das Literatur-Open-Air-Festival am 24. August, 18 Uhr, eröffnet und mit Fernando Aramburus Familiengeschichte aus dem Baskenland im Roman „Langsame Jahre“ am 28.08., 19:30 Uhr, zu Ende gehen.
Der Besuch aller Veranstaltungen ist eintrittsfrei – Boxen zum Empfang von Spenden stehen freilich gern bereit.
Als wir an der Rettbergsaue entlang schippern, scheint ein Sprung auf die Nil-Insel Elephantine möglich, obwohl am Schiersteiner Jachthafen gar keine kleinen Jungs um Bakschisch gebettelt hatten. Den Rhein stellen wir uns aber doch als Äquivalent zum ägyptischen Fluss vor – denn „Der Tod auf dem Nil“ spielt jetzt vor Publikum auf dem Fährschiff Tamara. Eine famose Idee im von der Stadt ausgerufenen Jahr des Wassers: Schauspielerin und Sprecherin Renate Kohn liest aus Agatha Christies Kriminalroman während einer eineinviertelstündigen Schifffahrt am sonnigen Frühsommerabend. Sie hat den dicken Schmöker gekürzt auf wasserpassende „Nil-Passagen“, und die Stadtbibliothek als Veranstalterin ihre Gäste um einen „Dresscode der 1930er Jahre“ (das Buch erschien 1937) gebeten. Er wird teilweise umgesetzt in breiten Hosenträgern und einer ganzen Menge von Strohhüten. Sie schützen auch vor zu viel Sonneneinstrahlung aufs Hirn. Und also macht sich ein voll besetztes Oberdeck auf, während des Gleitens auf des Stromes Wellen, Renate Kohns angenehmer Erzählstimme zuzuhören, die vor Manuskriptblättern am Heck sitzt, während ihr Mikro ein wenig knarzt.
Das ist nicht schlimm, denn wir kennen die Story ja, spätestens seit der legendären Verfilmung mit Peter Ustinov von 1978 und frühestens seit der Neuverfilmung von und mit Kenneth Branagh in diesem Jahr. Doch jetzt wird gelesen über das so glücklich wirkende Paar Linnet und Simon Doyle, über des reich geheirateten Bräutigams Verflossene Jacqueline de Bellefort und vor allem natürlich vom belgischen Meisterdetektiv Hercule Poirot, dem Renate Kohn einen passenden französischen Akzent auf die Zunge legt. Für die der Anwesenden gibt es dafür ein Getränk. Und wenn Poirot vom feinen Hotel Old Cataract in Assuan auf den Nil blickt, sehen wir, wie sich die Abendsonne im Rhein und auf Stirnen spiegelt.
Motorboote lärmen vorbei, ein einsames Kanu paddelt seine Runden, lange Passagier- und Frachtschiffe lassen die Tamara ein bisschen schaukeln, und also nehmen wir atmosphärisch teil an der alten Agatha-Christie-Touristen-Gruppe im Aussichtssalon auf dem Promenadendeck des Nildampfers. Sie unternimmt einen Ausflug nach Nubien zum Tempel Abu Simbel – wir fahren durch die Schiersteiner Brücke nach Biebrich („herrliches Panorama“, sagen die Gäste – nicht mehr vis-à-vis zum Zollspeicher) und in die Pause.
Vor der Petersaue dreht Tamara – es gibt die erste Tote auf dem Schiff. Die reiche Erbin Linnet ist erschossen und ihre Perlenkette weg. Den Segelflieger über dem Rhein lässt das kalt, und auch die Vögel im Naturschutzgebiet der Rettbergsaue lassen sich weder vom nun auf dem Nildampfer stattfindenden Verhör vom Kreisen abbringen noch als Tote Nummer 2, Linnets Zofe Louise, gefunden wird. Als darüber hinaus Mrs. Otterbourne, Schriftstellerin ihres Zeichens, ermordet wird – ist die Lesung zu Ende. Denn Renate Kohn fordert ganz im Sinne der Stadtbibliotheken zum eigenen Weiterlesen auf. Man kann das Buch ja entleihen…
Foto: Viola Bolduan
Vom Vormittag an sind viele Besucher*innen im Haus. Der Welttag des Buches am 23. April wird in Kooperations-Veranstaltungen von Förderverein Literaturhaus und Literaturhaus im Literaturhaus gebührend gefeiert. Die Kaffee-und-Kuchen-Theke findet schon vor der ersten Lesung für Kinder Zuspruch. Manche betreten gar das erste Mal die großbürgerliche Villa Clementine und können sich nicht satt sehen am gründerzeitlichen Dekor des Hauses. Es sollte eben offen sein für alle, auch tags über zum Schauen – nicht nur an Leseabenden. Der Förderverein will den Zuspruch, den das Literaturhaus erfährt, unter Beweis stellen und ermuntern, indem er mit ehrenamtlichen Helfer*innen den gesamten Tag über Speisen und Getränke anbietet, zumal der Gelbe Salon an diesem Tag als Café doch einmal wieder genutzt werden kann. Und im Café präsentiert Katalyn Hühnerfeld denn um die Mittagszeit lebhaft und ausdrucksstark Kurt Tucholsky zur Suppe, angerührt von den Hofköchen und serviert von Karina Bertagnolli vom Verlagshaus Römerweg. Die Verlegerin gibt nach dem leiblichen Gericht den Gästen den Tucholsky-Band „C`est la vie–! Ssälawih–!“ in die Hand als gelesen werden wollendes Dessert.
Als weiterer Kaffeehaus-Literat macht Erich Kästner den Auftakt für ein Nachmittags-Programm mit „Die Konferenz der Tiere“, gelesen von Schauspieler und Regisseur Andreas Mach, der die vielen verschiedenen Tieren bravourös stimmlich charakteristisch zu Wort kommen lässt. Kästners Buch ist mit seinem Aufruf gegen den Krieg gerade höchst aktuell und wird genauso aufgenommen.
Das Fördervereins-Motto des Welttags des Buches „Freiheit für das Wort“ ist Thema im Anschluss, als Vorsitzende Rita Thies prominente Bürger*innen der Stadt mit deren Buch-Auswahl begrüßt. „Ich habe früher viel und gern gelesen“ – als er noch nicht Oberbürgermeister dieser Stadt war, aber doch länger schon Gatte einer gelernten Buchhändlerin, hört das Publikum von Gert-Uwe Mende gern. Er präsentiert Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ als ihn geprägt habende Leseerfahrung in jungen Jahren. Felicitas Reusch (Gründerin der Wiesbadener Kunstarche) macht auf Bücher über das Bürgerkriegsland Mali aufmerksam, Presseclub-Vorsitzender Stefan Schröder hält „Erdogan, eine Biografie als Graphic novel“ von Can Dündar und „Russische Botschaften“ von Yassin Musharbash hoch, und zum Abschluss empfiehlt Buchhändlerin Jutta Leimbert u.a. Katerina Poladjans „Zukunftsmusik“.
Eine zweistündige Veranstaltung mit dem belarussischen Autor Sasha Filipenko schließt am Abend den Welttag des Buches ab. Er spreche gerade mit Dostojewski, weshalb er gern nach Wiesbaden gekommen sei, sagt er, der, geboren in Minsk, 2020 mit seiner Familie St. Petersburg verlassen hat, jetzt in der Schweiz lebt, wo der Diogenes-Verlag sein jüngstes Buch „Die Jagd“ in diesem Jahr veröffentlicht hat. Irina Kissin, Slawistin an der Uni Heidelberg, dolmetscht das Gespräch, Armin Nufer liest Passagen aus dem neuen Roman. Sasha Filipenko hadert mit Dostojewski: Über die Schuld Raskolnikows in dessen Roman „Verbrechen und Strafe“ hätte der Kollege nicht über 700 Seiten lang verhandeln müssen. „Das Unzulässige ist unzulässig. Punkt.“ Es ist die Einsicht eines Journalisten, der beim kritischen Sender „Doschd“ in Russland gearbeitet und die Schikanen und Propaganda-Mechanismen erfahren hat. Ein Journalist, Anton Quint, ist – verfolgt und gehetzt – auch die Hauptfigur im neuen Buch. Die derzeit in der Ukraine herrschenden Sprache der Gewalt definiert der Autor als die des „Rugby-Spielers“ Putin, rational geplant und von langer Hand durch ein weites, komplexes Propaganda-Netz vorbereitet. In Russland, so Filipenko, gebe es eben keine Gesellschaft, nur einzelne Interessenvertretungen, daher auch keine verbreiteten Proteste gegen den Angriff. „Was sind das für Väter, die ihre Söhne in den Krieg schicken, die Ja sagen zum Tod“? Im Roman bildet Filipenko Vater-Figuren ab und ist selbst einer am Abend – der kleine Sohn sitzt aufmerksam im Publikum, das im Programm gut vorbereitet war auf diesen Abschluss. So auch der Förderverein, der jetzt Brot- und Kuchenreste einpackt und letzte Krümel von der Theke wischt.