Am Nikolausabend, 6. Dezember 2023, waren Mitglieder des Rotary-Clubs Wiesbaden-Kochbrunnen zu Gast im Literaturhaus. Clubmitglied und Vorsitzende des Fördervereins Literaturhaus Wiesbaden, Rita Thies, hatte eingeladen, die großbürgerlichen Räumlichkeiten zu bestaunen. Nach ihrer Vorstellung des Hauses und der Begrüßung durch die derzeitige Club-Präsidentin Christine Rother stellte Buchhändlerin Jutta Leimbert (Buchhandlung Vaternahm) im voll besetzten Roten Salon anschaulich ihre Lieblingsbücher der Saison vor, die im Anschluss auch ihre eigenen Liebhaber*innen fanden. Andere bildeten derweil Schlangen vor dem reichhaltigen Fingerfood-Büffet, bestellten Wein und Wasser an der von Fördervereins-Mitgliedern besorgten Theke und alle sammelten sich dann im Café an adventlich dekorierten Tischen zu anregendem Gespräch. Rund 40 Personen erlebten einen stimmungsvollen Abend, an dem ein Auftritt des Clubmitglieds Manfred Kühn traditionsgemäß nicht fehlen durfte. Der ältere Herr erinnerte als Pfarrer i.R. an die Entstehung und Entwicklung des Nikolaus-Kults innerhalb des Christentums und erhielt für seine Rede viel Beifall.

Ohne zu überlegen, steigt Harriet in den Geländewagen, hievt die alte Frau aus der Feuergefahr hinein (der Wald brennt) und rast mit ihr zum nächsten Krankenhaus. Sie kommt heil an. Harriet aber kann überhaupt nicht Auto fahren. Wie reimt sich das zusammen?

Eines der vielen seltsamen Puzzleteilchen im Roman der Wiesbadener Krimi-Stipendiatin von 2019 Zoë Beck; aus „Memoria“ liest sie in einer Veranstaltung des Fördervereins Literaturhaus in den neuen Räumen der Wiesbaden Stiftung am Michelsberg. Premiere für das Buch und die Institution: Wenige Tage zuvor ist sie in ihr gläsernes Bürgerbüro eingezogen, seit wenigen Tagen ist es als Zoë Becks zehnter Roman im Suhrkamp-Verlag erschienen. Ans Erstere erinnert Stiftungs-Geschäftsführerin Alrun Luise Schößler nach der Begrüßung durch Lutgart Behets-Oschmann für den Vorstand des Fördervereins und Moderatorin Kim Engels erinnert ans Letztere: Zoë Becks Lesetour-Auftakt im Stiftungs-Raum. So kurz die Zeitspanne für Erinnerungen hier, so fast lebenslang  für die Hauptfigur im Buch, das „Erinnerung“ in seinem Titel trägt.

Die mehrfach ausgezeichnete Krimi-Autorin und Filmsynchronregisseurin, Übersetzerin und Verlegerin Zoë Beck hat sich intensiv mit den Mechanismen von Erinnerungen beschäftigt, wie sie im Gespräch mitteilt. Wie manipulierbar sind sie? Wie viele falsche tragen wir mit uns herum? Wie können wir unliebsame löschen? „Das macht doch kaputt.“ Während der Corona-Zeit hat die Autorin über „Depression“ („womit ich mich auskenne“) 2021 ein Sachbuch geschrieben, in diesem Jahr nun einen ,Thriller‘ („irgendwas muss ja vorne draufstehen“) über Vorkommnisse der Vergangenheit, die irritierend bruchstückhaft, aber ohne bewusste Erinnerung aufleuchten. Eine Klavierausbildung verbindet die Autorin mit ihrer Hauptfigur Harriet. Zoë Beck gab die Pianistinnen-Karriere auf, weil sie das gewünschte Glamour-Frauenbild in der klassischen Musikbranche ablehnte – für Harriet reicht es gerade noch zum Nebenberuf einer Klavierbauer- und stimmerin. Und also liest die Autorin auch die „Opern-Ouvertüre“, wie Moderatorin Kim Engels das erste „Memoria“-Kapitel nennt.

Ein Zug hält, der Wald brennt, ein Haus ist in Gefahr, seine Bewohnerin auch, Harriet rettet … „„wie hast du mich gefunden? Du darfst gar nicht hier sein“, sagt die alte Frau. Kennen sich die beiden? Woher und warum? Harriet weiß es noch ebenso wenig, wie sie in der Situation den rettenden Wagen fahren konnte. Wenn der Vater sich nicht mehr erinnert, dann liegt es an dessen Demenz. Harriet, die in einem entvölkerten Banktower in Frankfurt wohnt, besucht ihn in München, wo er die Tochter nicht mehr erkennt. Als aber ein anderer Mann sie an der Isar erkennt, flippt sie aus und schlägt ihn nieder.

Sie erinnert sich: Hatte sie früher hier etwas Schlimmes verbrochen? Dem will sie auf den Grund gehen. Ihre Aufklärung gelingt – „fast“, sagt die Autorin. Und auch fast nur sind die beiden am Podium zu Ende. „Noch eine Kostprobe“ erbittet sich die Moderatorin, und Zoë Beck liest dann eben noch den Ausschnitt, als Harriet als Klavierstimmerin ins Haus einer wohlhabenden Familie kommt, die Tochter aber gar nicht, wie der Vater wollte, Klavierspielen lernen will. Dann wird das Buch zugeklappt.

Fotos: Lutgart Behets-Oschmann

 

Am 19. November wird im Theater Basel der Schweizer Buchpreis 2023 verliehen. Demian Lienhards Roman „Mr. Goebbels JazzBand“ ist unter den fünf nominierten Büchern. Im September war der Autor, in Bern geboren und heute in Zürich lebend, Gast des Fördervereins Literaturhaus Wiesbaden und las aus seinem neuen Buch im Roten Salon. Sein vorangegangener Debütroman „Ich bin die, vor der mich meine Mutter immer gewarnt hat“, hatte 2019 schon den Schweizer Literaturpreis erhalten.

Demian Lienhard kann durchaus auch Schwyzerdütsch, obwohl wir es ihm in Wiesbaden nicht anhören. Er, Mitte 30, weiß eine gewisse Parallele zwischen seinem akademischen Beruf als promovierter klassischer Archäologe und seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu ziehen: Er gräbt im Roman „Mr. Goebbels JazzBand“ ja die wahre Geschichte einer in Nazi-Deutschland vom Propagandaministerium etablierten Swing-Band für den englischsprachigen Rundfunksender „Germany Calling“ aus – mit seinem damals berühmten Moderator Wilhelm Fröhlich, alias William Joyce, Gründer der Faschistenbewegung in England und den entsprechenden Musikern. Diese Erzählung fußt auf tatsächlichen historischen Ereignissen.

Was Demian Lienhard hinzuerfindet, ist die Art und Weise, wie diese Erzählung ihr Publikum findet. Jetzt treibt er ein sehr raffiniertes Spiel, denn der, der im Roman über Mr. Goebbels Jazzband einen Roman schreiben soll, ist wiederum, wie Lienhard selbst, ein Schweizer Autor – im Unterschied zu ihm aber nicht eben sehr erfolgreich in der Wahrnehmung seines Auftrags. Unter einem Decknamen schreibt der überdies. Und was dieser Fritz Mahler denn doch seiner Nachwelt hinterlassen hat, kommt wiederum auf verschlungenem Wege ins Licht eines Verlags, nachdem ein Demian Lienhard das Manuskript aus dem Fundus fischen muss – angeblich von einem Verwandten verfasst. Dazu gibt es im Nachwort eine subtil verwirrende Erklärung eines Staatsarchivars zuzüglich einer Schlussbemerkung seitens eines Herausgebers namens Demian Lienhard, womit die wahre Autorenschaft eher verschleiert, denn aufgedeckt wäre.

Einmal von der Wiederentdeckung der zu Propagandazwecken gegründeten Jazzband in NS-Zeiten abgesehen, besticht Lienhards Roman durch die in ihm diskutierten Parallelen und Unterschiede zwischen Propaganda und Literatur und vor allem durch das Spiel mit der Urheberschaft dieses Romans, der seine Poetik im Werk selbst nicht nur benennt, sondern sie gleichzeitig auch genauso ausführt. Ich darf, als Moderatorin dieser Lesung im Literaturhaus, ihm den Schweizer Buchpreis herzlichst wünschen.

Klosterfrau Hildegard von Bingen, 12. Jahrhundert, war Gelehrte, Mystikerin, Briefpartnerin und Buchautorin – und wird zur Referenz für eine Digitalnative des 21. Jahrhunderts, wie auch Emily Dickinson, mit der die Ich-Erzählerin ihren Rückzug aus der Gesellschaft teilt. Für die amerikanische Lyrikerin aus dem 19. Jahrhundert war es noch eine aus Menschen bestehende, für Jenifer Beckers Figur, drei Jahrhunderte später, die der Social Media. Deren Sehnsucht gilt einer Ruhe in Abgeschiedenheit, jedoch ohne kreatives Resultat (wie es die Frauen aus der Vergangenheit vorlebten). Das ist das Dilemma in Jenifer Beckers Debütroman „Zeit der Langeweile“. Denn Ich-Figur Mila Meyring will ihre digitalen Spuren im Internet löschen, ihre Sucht nach elektronischen Infos und Chats in den sozialen Netzwerken bekämpfen, ihre Abhängigkeit von allen möglichen Zugängen und Kontakten via Computer beenden und erschöpft ihre Energie dabei. Das Ergebnis: „Zeiten der Langweile“.

Autorin Jenifer Becker haben Literaturinteressierte auf dem Festival des Fördervereins Literaturhaus in diesem Sommer kennengelernt als Referentin zum Thema „KI und Literatur“. Die promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturinstitut der Uni Hildesheim hatte mit ChatGPT bearbeitete Texte mitgebracht – Fazit: In Literatur sind menschliche Fantasie und Schreiberfahrung künstlicher Intelligenz (noch) stark überlegen. Und in ihrem ersten, gerade erschienenen Roman schreibt sie nun, wie sich eine Frau Mitte 30, aus dem Krakengriff des digitalen Urwalds, in den sie sich tief hineinbegeben hat, befreien will.

Vieles im Buch wird auf eigenen Erfahrungen beruhen, heißt auch: die Sprache ist durchzogen von Begriffen der Millennial-Generation von TikTok, Instagram, Netflix, Spotify, etc. bis Meme, nutzt Abkürzungen, wie FOMO, Detox, TERF und HDGDL – nicht nur Hildegard von Bingen hätte ein Wörterbuch gebraucht! Hier ist das Vokabular der digital Sozialisierten eingesetzt für die Google-Recherche nach den eigenen Spuren im Netz, die es auszulöschen gilt. Die Arbeit ist lang, aufregend und deprimierend bis zur Depression. Kleinteilig schildet die Ich-Erzählerin ihre Tagesabläufe im Corona-Jahr 2021 in Berlin auf der Suche nach der „Real-Life-Reset“-Taste zwischen der Angst, von anderen gecancelt zu werden und der Sehnsucht nach einem wieder analogen Leben. Wie eintönig das wird, wird ihr freilich auch immer bewusster. Immerhin – die hektischen Versuche, ihren eigenen digitalen Fingerabdruck aufzuspüren, um ihn zu vernichten, hält die Ich-Erzählerin weiterhin am Rechner fest. Sie ist mit der Aufgabe ihrer Social-Media-Kontakte eben nicht mehr online erreichbar und fühlt sich entsprechend abgehängt. Die Kontakte zum misanthropischen Bruder und zur Offline-Oma auf dem Land helfen wenig. Der Abtauch-Versuch aus dem digitalen Netz kostet Lebenskraft – allein mit sich weiß Mila nicht, was zu tun.

Jenifer Becker beschreibt eindrücklich die Abhängigkeit einer Digital-Generation – und realistisch deren Unüberwindbarkeit. „Ich wusste, dass es kaum möglich war, in einer strahlenfreien Zone zu leben …Genauso unmöglich war es aber auch, in dieser Welt zu leben …“, in der Hildegards von Bingen Engel-Vision sich in eine Drohne verwandelt. Das elektronische Auge ist allgegenwärtig.

Jenifer Becker: „Zeiten der Langeweile“. Hanser Berlin. 240 Seiten. 23 €.  

Und hinter der Theke steht …  zu allererst und immer wieder Peter Bingel, „seines Zeichens“, wie Rita Thies immer zu sagen pflegt: „mein Mann“. Der im Vorfeld nicht nur unermüdlich Literaturfestival-Plakate allüberall in der Stadt geklebt und damit den Weg in den Burggarten Sonnenberg bepflastert, Flaschen geschleppt und die Küche im Kabäuschen auf dem Gelände sorgfältig eingerichtet hat – sondern von früh bis spat aufrechtstehend den besten Kaffee von Welt gekocht, von Vereinsmitliedern gebackene und mitgebrachte Kuchen aller Art fachmännisch in Portionen aufgeteilt, auf Tellerchen angeboten, mit Gabeln versehen hat – mit Zucker und Milch dazu, wo und wenn nötig. Überdies hatte er ein wachsames Auge auf den vom städtischen Amt wegen „Waldbrandgefahr“ gebotenen Wassereimer draußen vor der Tür und auf die Spendendose auf dem Thekenrand, wusste stets den Preis für die ausgegebenen Köstlichkeiten und dirigierte oft genug ein Rückgeld in die Dose auf dem Thekenrand um. Wo nach 18 Uhr die Weinflaschen standen, wusste er auf jeden Fall auch und beherrschte am Abschlusstag die hohe Haltung beim Einschenken des perlenden Txakolí aus San Sebastián aus dem Effeff. Er hatte sie häufig einzunehmen.

Guten und regen Beistand in der Küche, fürs Anrichten und Abservieren, Spülen, Abtrocknen und Abstellen des Geschirrs hatte er von fleißigen Händen, die u.a. Iris Blaul, Rosa Winheim, Gabi Ostermaier und vielen Vereinsmitgliedern mehr gehörten. Vielen Dank für Eure Hilfe!

Text: Viola Bolduan

„… und nächstes Jahr Maschinenprosa?“ KI und Literatur

„Die Sonne senkte sich am westlichen Horizont und tauchte die australische Wildnis in warmes orangefarbenes Licht.“ Soweit der Beginn des Textes „Alpha Centauri in Ewigkeit“ – ein Beispiel aus der gemeinsamen Produktion von Autorin Jenifer Becker und ChatGPT (Generative Pre-Trained Transformer: sprach-und textbasierter und -trainierter Chatbot), das die Literaturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt „Kreatives Schreiben mit KI“ am Literaturinstitut Hildesheim auf dem Literaturfestival vorstellt. Andreas Mach liest einen Text über ein im australischen Outback verlorengehendes Paar, der formal linear verläuft mit vielen vagen Adjektiven, aber durchaus stupenden Komposita. Jenifer Becker hat ChatGPT heftig prompten (fordern) müssen („55 enggesetzte Seiten Dialog mit ChatGPT für 5 Normseiten Kurzgeschichte“), bis sie als Autorin halbwegs mit dem Resultat zufrieden sein konnte. Mit weniger Einfluss der Autorin greift der Text „Alpha Centauri in Wiesbaden“ so tief in die Klischeekiste, dass das Publikum heftig lachen muss. Warum ChatGPT nicht mehr kann, als eben aus den Tiefen der ihm zur Verfügung stehenden Text-Referenzen nach einer nächstmöglichen und wahrscheinlichen Weiterführung zu suchen, erklärt IT-Experte Wolfram Brandes, der darüber hinaus auf Probleme der Urheberschaft eines mit ChatGPT generierten Textes aufmerksam macht.

Ergebnis: Für manche formelle Schriftlichkeit mag ChatGPT hilfreich sein – an Literatur stößt sich KI eine blutige Nase. Die Metapher würde KI übrigens nicht verstehen … und auch keinen Spaß. Deshalb hat Jenifer Becker ihren Debüt-Roman auch ganz eigenständig, ohne KI, geschrieben. „Zeiten der Langeweile“ kommt im August heraus und handelt davon, wie es einer Frau ohne jeglichen digitalen Zugang ergeht. Nämlich wie? Darüber später, wenn der Roman vorliegt.

Text: Viola Bolduan

„Cox oder Der Lauf der Zeit“ im Regen

Die ersten Tage des Literaturfestivals 2023 im Burggarten Sonnenberg hatten die Regenwolken noch vor sich hingeschoben, bis sie Samstagabend dann doch aus ihren Nähten platzen. Unterm Schirm muss Moderator Christoph Nielbock seine Gäste auf der Bühne in Empfang nehmen: Musikerin Li Yi mit ihrem chinesischen Instrument der Guzheng (Tafelzither), zwei Chinesinnen, die im Kostüm der chinesischen Kaiserzeit des 18. Jahrhunderts auftreten und Hanns Jörg Krumpholz, der aus Christoph Ransmayrs Roman „Cox oder Der Lauf der Zeit“ lesen sollte. Der Roman erzählt die Geschichte des englischen Uhrmachermeisters Alister Cox, der von Kaiser Qianlong ins Reich der Mitte eingeladen wird, für ihn eine Ewigkeits-Uhr zu bauen. Dem Briten begegnet eine fremde Welt mit all ihren Schrecklichkeiten und Schönheiten. Christoph Nielbock informiert über die historischen Hintergründe, Klänge auf der Guzheng lassen Geheimnisvolles erahnen, und Hanns Jörg Krumpholz liest Passagen aus dem Roman derart akzentuiert und fesselnd, dass selbst der Regen niederkniet – dort aber auch länger verharrt. Ein nicht zu entmutigendes Publikum weicht unterdessen unter die großen Schirme aus, knöpft die Jacke zu, zieht den Schal enger und lauscht gebannt.

Text: Viola Bolduan

Drei Fragen an …

Victoria Belim, ukrainische Autorin zu ihrem Roman „Rote Sirenen“, in dem sie von ihrer Familie erzählt, die das Schicksal ihres Urgroßonkels verschweigt, der in den 1930er Jahren verschwunden ist. Als Haus der „roten Sirenen“ ist das frühere Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes bekannt.

  1. Victoria Belim, was haben Sie im Verlauf Ihrer Recherchen über Ihre Familie über das Land Ihrer Herkunft erfahren, was Sie zuvor nicht wussten?

Ich hatte nicht gewusst, dass die Traumata der sowjetischen Vergangenheit so tief sitzen. Die Sowjetunion hatte mit uns ein soziales Experiment veranstaltet, das die Gesellschaft politisch wie auch privat völlig dominiert und eingeschüchtert hatte.

  1. Inwieweit kann Ihr Buch zur besseren Kenntnis über ukrainische Geschichte beitragen?

Ziel meines Romans ist, dass er den Kontext verständlich macht, aus dem heraus ein Freiheitsstreben der Ukrainer*innen entstanden ist. Er möchte die bisher leergebliebenen Stellen in der Geschichte unseres Landes füllen.

  1. Welchen Stellenwert hat Literatur heute in der Ukraine?

Viele Menschen in der Ukraine lesen. Es gibt geradezu Hunger nach Literatur. Viele schreiben auch. Allerdings sind die Papierkosten sehr hoch, so dass die Verlage weniger Bücher veröffentlichen können. Ich habe mein Buch in Englisch geschrieben und es ist bereits in 15 verschiedene Sprachen übersetzt worden – in der Ukraine aber konnte es bisher noch nicht erscheinen.

Die Fragen stellte Viola Bolduan.

Im polnischen Legnica (früher Liegnitz) stehen Grabsteine mit deutschsprachigen Inschriften. Wie sind die dahin gekommen? Die Schüssel im Haus trägt am Boden eine kleine Hakenkreuz-Gravitur. Warum? Fragen wie diese stellte sich die heutige Autorin und Übersetzerin Karolina Kuszyk, als sie in der westpolnischen Heimat aufwuchs. Die Neugier ließ sie nicht los, bis aus den Fragen Recherchen wurde und aus den Recherchen ein Buch. „Poniemieckie“ heißt sein polnischer Titel, erschienen 2019; in der deutschsprachigen Ausgabe (2022) wird „poniemieckie“, wörtlich „ehemals deutsch“, bildhaft fantasievoll übertragen zu „In den Häusern der anderen“. Mit diesem Buch ist die Autorin Gast einer Lesung, veranstaltet vom Quartett: Literaturhaus und dessen Förderverein, Presseclub und Freundschaftsverein Wiesbaden-Wroclaw in der Reihe „Gespräche in der Villa“. Entsprechend dicht gedrängt sitzt ein interessiertes Publikum vom roten bis in den gelben Salon hinein, nach eifrigem Besuch im zum Anlass bewirtschafteten Café.

Moderiert von Stefan Schröder, Vorsitzender des Presseclubs, erzählt Karolina Kuszyk in fließendem Deutsch von ihrer Neugier auf die Vergangenheit ihrer polnischen Heimat, die Deutsche früher als Niederschlesien kannten. Historiker Schröder rekapituliert die Teilungsgeschichte Polen nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Sowjetunion (u.a.) die polnischen Ostgebiete vereinnahmte und Polen als Entschädigung deutsche Ostregionen zugeschlagen wurden.

Karolina Kuszyk hat nun untersucht, wie die Zwangsumgesiedelten sich auf neuem Terrain verhielten, die Gebliebenen sich mit neuer Situation zu arrangieren hatten und welche Phasen diese Um- und Eingewöhnung durchlief. Bis 1949, so referiert sie, hatte das „Ministerium für wiedergewonnene Gebiete“ alles Vorgefundene zum Eigentum des polnischen Staates erklärt, das er wieder verkaufen konnte. „Gekauft“ wurde auch – in Wildwest-Manier. Oder aber einfach genommen, geplündert, geraubt. Vor staatlicher Zuordnung von Wohnungen herrschte das Recht des Stärkeren. Banden, Milizen und staatliche Dienststellen vereinnahmten, was sie zu brauchen meinten. Wo noch Deutsche lebten, erfuhren sie, was Polen unter deutscher Besatzung widerfahren war. „Umkehrung des Kriegszustands“ fasst es Stefan Schröder zusammen. Und gleichzeitig: Bitte, keine Erinnerung an den Krieg, also Verheimlichung der Vergangenheit; Vorgeschichte blieb, so Karolina Kuszyk, ein „schambehaftetes Geheimnis“.

Danach herrschte eine Zeit der Stagnation: Die nächste Generation kümmert sich mehr um ihre Zukunft als um die Vergangenheit. Die wieder unbefangeneren Enkelinnen und Enkel hingegen interessieren sich plötzlich dann doch für das kleine Hakenkreuz auf dem Schüsselboden und den deutschen Grabstein auf dem polnischen Friedhof.

Karolina Kuszyks Buch folgt der Aufdeckung deutscher Vergangenheit in polnischer Geschichte anhand zitierter Erzählung und in Form alltäglicher Gegenstände. Da findet sich ein Einmach-Glas, möglicherweise gefüllt mit Marmelade, oder doch vergiftet? Was macht der „Werwolf im Kompott“ oder welches Gewebe sitzt da im Spiritus? Was sucht der deutsche Gast, wenn er im Garten des nun polnischen Hauses gräbt? Wenigstens darf er graben, denn Feindschaftsgefühl und Misstrauen sind gewichen. In Westpolen, so Karolina Kuszyk, habe „jeder Haushalt heute seinen Deutschen“, der dort nun der eigenen Vergangenheit nachspürt. Die Häuser spielen ihre Rolle als private diplomatische Drehtüren fürs Gehen und Kommen und Kommen und Gehen in Gegenwart wie Vergangenheit – gerade, wenn sie die der anderen sind.

Mörikes beständig flatterndes blaues Band („Er ist’s“ – in diesem März 2023 noch immer nicht ganz) und Robert Gernhardts Kant-Torte (…. und er sprach die schönen Worte: ,Gibt es hinterher noch Torte?‘“), keine Ballade über schillernde „Bürgschaft“ oder Ibykus‘ Kraniche, vielmehr Biermann, Wolf und Gottfried Benn, ein Kinderlied und der Abendsegen. „Der ewige Brunnen“ – ein Quell von 1.200 deutschsprachigen Gedichten vom Merseburger Zauberspruch bis Grönemeyer (neu), in den 50er Jahren von Ludwig Reiners als Sammlung begründet, ist von Dirk von Petersdorff, Germanist und Autor, bearbeitet und herausgegeben worden. Am 16. März 2023 war Erscheinungstag des Schmökers durch alle Verse  (C.H.Beck-Verlag) und gleichzeitig Petersdorffs 57. Geburtstag. Er feierte ihn im Großen Haus des Staatstheaters gemeinsam mit Publizistin Elke Heidenreich   und Marc-Aurel Floros, Pianist und Heidenreichs Lebensgefährten am Flügel. „Happy Birthday“ nach dem Schostakowitsch-Walzer dem Herausgeber zu Ehren. Tusch.

Am Tisch vor heruntergelassenem Gobelin-Vorhang geht es zwischen den beiden Erzählenden, Erklärenden und Lesenden munter zu. Elke Heidenreich, quick und helle auch mit 80, fragt – Dirk von Petersdorff sagt: Die Spannbreite der ursprünglichen Sammlung, die Kapiteleinteilung, das Kreuz und Quer durch die Zeiten sind erhalten geblieben; manch altes Gedicht wurde entfernt, aktuelle Texte sind hinzugekommen. Schillers und Fontanes Balladen, Hölderlins Oden, wenn auch (wie schön!) nicht vorgetragen, sind erhalten geblieben, Lyrik von Frauen, wie Ingeborg Bachmann oder Sarah Kirsch, hinzugefügt. Und womit beginnt die Lesung?

Natürlich mit dem Säulenheiligen der Dichtkunst, Goethe: „Willkomm und Abschied“ (Heidenreich schnalzt das Tempo des Hufgetrappels dazu), flankiert und aus Frauensicht kommentiert von Mascha Kalékos „Das letzte Mal“. Nicht nur die Vortragenden sind in einem ständigen Dialog, auch die gelesenen Gedichte sind’s. Und oft muss Elke Heidenreich gar nicht lesen: den „Abendsegen“ von Adelheid Wette aus „Hänsel und Gretel“ kann sie so gut auswendig wie Eichendorffs „Mondnacht“ und summt mit, wenn Marc-Aurel Floros „Wenn ich ein Vöglein wär‘“ am Flügel anstimmt. Und dann erzählt sie von ihrer Kindheit: Immer dann, wenn es hart zu Hause war, griff sie zum alten „Ewigen Brunnen“, fühlte sich von Gedichten verstanden und getröstet. „Gedichte erklärten mir die Welt.“ Das gelte auch für heutige junge Leute. Einfach mal blättern, entdecken, sich von Inhalt, Form und Klang ansprechen lassen. Das frühere „Hausbuch“ sei nun ein „Haus- und Mitnehm-Buch“, Türöffner für eine Neugier, was Gedichte können und seit den Merseburger Zaubersprüchen schon immer konnten. Moden gibt es auch, je nach Zeitgenossenschaft. Vorlieben ändern sich – doch das Spektrum bleibt, aus dem man aussuchen kann, denn: „Das Gedicht kann alles.“ Auch lachen, wie Vorleser von Petersdorff und das Publikum gleichermaßen mitten im Vers „Die wahre Erkenntnis liegt unbestritten etwa zwischen dem zweiten und dem dritten (Mann), wenn Tucholsky „Die geschiedene Frau“ sprechen lässt. Brutal (mit Rilke-Beispiel), lustig, hermetisch (wie Benn – Elke Heidenreich: „Ich versteh auch nicht alles“), politisch (Wolf Biermann: „Ermutigung“), abstrakt und konkret, kunstvoll und schlicht, können Gedichte sein und machen auf sich Lust, wenn sie, wie von Elke Heidenreich und Dirk von Petersdorff leger, leicht und luftig vorgestellt und mit Marc-Aurel Floros von zart bis furios auf dem Flügel begleitet werden.

Dû bist mîn, ich bin dîn/des solt dû gewis sîn“ dieser, einer der ersten Verse mittelhochdeutscher Lyrik, macht in seiner Einfachheit den Anfang des Buches.

 „Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten“, neu ausgewählt und herausgegeben von Dirk von Petersdorff, C.H. Beck, 1167 Seiten.