Literaturübersetzen im Jahr 2021

07.05.2021


Seit das Inaugurationsgedicht „The Hill We Climb“ in viele Weltsprachen übersetzt wurde, kam es in einigen Ländern, auch bei uns, zu lautstarken Debatten darüber, wer was übersetzen ‚dürfe‘. In den Niederlanden und Katalonien z. B. waren zunächst weiße Übersetzer:innen engagiert worden: Dann kam es, nicht immer auf eigenen Wunsch, zu Rückziehern. Die vielschichtige Gemengelage lässt sich schwer ordnen, doch als positive Nebenwirkung der Debatten bekommt die selten im Fokus stehende Kunst des Literaturübersetzens auf einmal frische Aufmerksamkeit. Literaturübersetzer Frank Heibert (zuletzt aufgefallen mit seiner Neuübersetzung von George Orwells „1984“, S. Fischer Verlag – siehe „Hören“ auf dieser Website) versucht sich an der Entwirrung der Fäden und liefert dabei auch Einblicke in seinen Beruf.

Chancengleichheit

Seit Jahrhunderten sind unsere westlichen Gesellschaften von Privilegien geprägt – in Bezug auf sozialen Status, Bildung, Geschlecht, Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung. Die Verweigerung gleicher Chancen und Rechte durch die Privilegierteren ist Diskriminierung. Chancengleichheit bedeutet gleicher Zugang unter gleichen Bedingungen: zu Bildung, zu Ressourcen, zu Posten, zu Aufträgen, zu Macht. All das misst sich auch an der medialen Aufmerksamkeit. Hier herrschen immer noch große Missverhältnisse. Es ist gut, dass sich das langsam ändert, aber die Veränderung hat erst begonnen. Wir können sie mitgestalten und sollten es tun. Für uns Privilegiertere heißt das: sensibler nachdenken und abgeben lernen. Auch in einem so status-unverdächtigen Bereich wie dem literarischen Übersetzen.

Redefreiheit

In der Demokratie darf sich jede:r äußern. Doch Aufmerksamkeit und Redezeit sind begrenzt. Wer erhält das Wort, wer wird gefragt, gefeaturet? Immer noch überwiegend weiße ältere Männer (wie ich)? Das Bemühen um Fortschritt, um Partizipation an der (Deutungs-)Macht, um Chancengleichheit verschiebt langsam die Kriterien. Wer reden darf, das wird – und zwar zu Recht – immer mehr nach Glaubwürdigkeit beurteilt, nach Mitreden-Können. Teil dieses Fortschritts ist eine wichtige Differenzierung: Für andere und deren Anliegen einzutreten, ist mitgestaltendes Engagement, für sie zu sprechen ist Entmündigung. Ein schmaler Grat.

Doch es kommt auch darauf an, wovon die Rede ist. Glaubwürdigkeit ist nicht bei jedem Thema gleichbedeutend mit Kompetenz. Ein weiterer schmaler Grat. Werden Erfahrungen bezeugt, ist Zuhören geboten. Geht es um Erfahrungen von Diskriminierung, ist besonderer Respekt beim Zuhören geboten. Doch Respekt kann nicht nur aus Schweigen bestehen. Nach dem Zuhören ist es, im Sinne des Engagements für Chancengleichheit und im Sinne der Redefreiheit, dringend nötig, dass sich die Privilegierteren nicht wegducken, sondern mittun beim Verändern. Manchmal wirkt es allerdings, als müsste Redezeit nach „Leidensverdienst“ erworben werden, durch das Vorweisen der richtigen Betroffenheits-Credits.

Marieke Lucas Rijneveld bezeichnet sich als nicht-binär, ordnet sich, wie die beiden Vornamen signalisieren, nicht einem Geschlecht zu. Das fällt aus dem heteronormativen Mainstream heraus und hat Rijneveld im Jugendalter offenbar Diskriminierung eingebracht. Kann oder muss diese Diskriminierung nun aufgerechnet werden gegen die Schwarze Erfahrung Gormans? In den USA hat eine schwarze Frau sich als Dichterin, zugleich aber auch politisch geäußert, also an der öffentlichen Deutungsmacht teilgehabt. Soll Rijneveld als Weiße, Privilegiertere, weniger Diskriminierte darauf verzichten, diesen Text zu übersetzen, weil sie damit in den Niederlanden schwarzen Menschen die Chance nähme, an der Deutungsmacht in Form einer Übersetzung teilzuhaben? Würde Literaturübersetzung auch als Teilhabe an der Deutungsmacht, an der Redefreiheit verstanden, könnte das eine interessante politische Frage sein.

Die Lage der Übersetzer:innen

Die Debatte lenkt Aufmerksamkeit auf das Literaturübersetzen; hier müssen drei Ebenen unterschieden werden, die jeweils auf andere Weise im Kontext der Debatte bedeutsam sind: die Wahrnehmung in der Gesellschaft, die finanzielle „Attraktivität“ des Berufs und  die sprachkünstlerische Arbeitsweise beim Vorgang des Literaturübersetzens.

Was die Wahrnehmung angeht, hat sich in den literaturaffinen Kreisen über die letzten 25 Jahre einiges getan, wir „kommen öfter vor“, Feuilleton, Buchhandel und dadurch auch die Leserschaft schauen zuweilen genauer hin. Da ist noch Luft nach oben; immer noch werden Übersetzer:innen, die als Urheber:innen ebenso automatisch genannt werden müssten wie etwa Fotograf:innen, häufig ‚vergessen‘, in bibliografischen Angaben, Blogs, Internetankündigungen oder  Programmheften. Dem liegt aber kein böser Wille zugrunde, sondern das intuitive Bedürfnis, bei der Beschäftigung mit Literatur der Autorin, dem Autor nahezukommen. Dass da ein dritter Mensch sozusagen mit im Bett liegt, dessen Anteil immens, aber schwer einzuschätzen ist, diese irritierende Erkenntnis wird oft reflexhaft ausgeblendet. Dabei gilt: Von dem übersetzten Buch, das Sie lesen, hat die Autorin bis auf die Eigennamen kein einziges Wort geschrieben. Diese Wahrheit ist immer wieder ein Aha-Erlebnis für Leser:innen, auch für viele aus der Literaturbranche. Insofern waren wir Übersetzer:innen etwas amüsiert, als im Zuge der Gorman-Rijneveld-Debatte auf einmal so dringende Ansprüche auf Teilhabe angemeldet wurden, auf ein Plätzchen im (meist immer noch) toten Winkel der Wahrnehmung.

Ähnliches gilt für die finanzielle Ebene. Wer Literatur übersetzen will, weiß, dass in der Regel monatlich kaum über 1000 Euro Umsatz vor Steuern dabei herauskommen. Seit der Urheberrechtsnovelle von 2002, die explizit „angemessene Vergütung“, also deutliche finanzielle Verbesserungen für die Literaturübersetzer:innen verspricht, hätte sich das eigentlich verbessern müssen, durch höhere Seitenhonorare und vor allem eine relevante Umsatzbeteiligung (wie in anderen künstlerischen Urheber-Berufen auch). Die Verlage, vor allem die großen Konzernverlage, haben gemauert, nach extrem zähen Verhandlungen des Übersetzerverbands VdÜ gibt es seit 2014 Gemeinsame Vergütungsregeln (allerdings mit nur 8 unabhängigen Verlagen, von denen allein Hanser zu den größeren zählt) mit „angemessenen“ Bedingungen. Aufgrund mühevoll von einzelnen Übersetzer:innen durch sämtliche Instanzen bis zum BGH durchgefochtenen Musterprozessen haben sich auch die Verträge mit den meisten anderen Verlagen leicht verbessert; inflationsbereinigt stehen wir heute aber finanziell deutlich schlechter da als vor 10 Jahren. Das sind die traurigen Fakten. Wenn es in den Niederlanden (oder in Deutschland) also merklich wenige Schwarze Übersetzer:innen gibt, so nicht, weil die Weißen sie von lukrativen Pfründen ausschließen wollten – sondern aus komplexen anderen Gründen, denen nachzugehen sich durchaus lohnt; fehlende Chancengleichheit setzt in der Regel viel früher an als bei Berufswahl oder Berufspraxis.

Auf der dritten, der Ebene der Arbeitsweisen beim Literaturübersetzen selbst, wird die Debatte noch einmal ganz anders interessant. Wird eine Übersetzung besser (oder: nur unter der Bedingung gut), wenn es zwischen Autor:in und Übersetzer:in Gemeinsamkeiten der erlebten Erfahrungen, der solcherart geprägten Identität gibt? Konkret hieß es, Marieke Lucas Rijneveld könne als weiße Person gar nicht für Amanda Gorman die (übersetzerische) Stimme erheben, oder jedenfalls nicht so gut wie diverse Schwarze niederländische Autorinnen. Doch liegt hier ein grundsätzlicher Irrtum vor.

Die Kunst des Literaturübersetzens

Wer übersetzt, spricht nämlich immer für jemanden, an seiner oder ihrer Stelle – in einer anderen Sprache. Es gehört zum Ethos, zur Verantwortung dieses Berufs, sich so gewissenhaft wie möglich in das Andere einzufühlen und den neu geschriebenen Text so überzeugend wie möglich zu gestalten. Ich muss mich selbst prüfen, ob ich in der Lage bin, mich in das jeweilige Andere eines Textes einzufühlen, und es gehört zur übersetzerischen Professionalität, dazu zu stehen, wenn ich das nicht kann, und den Auftrag abzulehnen.

Wer übersetzt, muss daran glauben, dass Einfühlung grundsätzlich möglich ist. Wir Menschen haben mehr gemeinsam, als was uns trennt. Um uns einfühlen zu können, müssen wir nicht identisch sein, ja wir müssen nicht einmal Ähnliches erlebt haben: Wer den „Ödipus“ übersetzt, muss nicht zuvor seinen Vater umbringen und mit seiner Mutter schlafen. Wir wissen alle, wie sich Ungerechtigkeit anfühlt, wir können kleine von großen Ungerechtigkeiten unterscheiden. Jedes neue Einfühlen erfordert viel Hintergrundwissen, Recherche und Nachfragen. Aber grundsätzlich gehört zum Übersetzungstalent die Fähigkeit, sich alle möglichen Varianten von Anderem anzuverwandeln, voller Respekt, im Dienst des Originals. Reiz und Antrieb dieses Berufs bestehen auch in dieser nie nachlassenden Neugier auf das Andere unserer Mitmenschen aus der ganzen Welt.

Beim Übersetzen findet der Transfer vom Blick auf die Welt im Original hin zu dem übersetzenden, sich einfühlenden Menschen immer statt,  der Faktor der anderen Kultur, des anderen Individuums wird also immer drin sein – auch wenn eine schwarze Europäerin Amanda Gorman übersetzt.

Unter deutschen Literaturübersetzer:innen wird das Thema, wer was übersetzen darf bzw. kann, derzeit kontrovers, spannend und respektvoll auf der Toledo-Website unter der Rubrik Berührungsängste debattiert.

Zum Literaturübersetzen reichen Empathie und Neugier allerdings noch nicht aus. Dieser Sprach- und Kulturtransfer verlangt vor allem Formulierungsfertigkeit und stilistische Kompetenz. Und so liegt die Annahme nahe, wer schreiben könne, könne auch übersetzen, was zum  verbreiteten Trugschluss führt, Autor:innen seien die idealen Literaturübersetzer:innen. Aber: Beim Schreiben eigener Texte geht es darum, eine Stimme für die eigene Persönlichkeit und die eigenen Anliegen zu finden; das ist nicht dasselbe, wie eine Stimme für Identität und Anliegen einer anderen Stimme in einer neuen Sprache zu finden. Manche Autor:innen können sehr gut übersetzen, doch dann verfügen sie über ein zweites künstlerisches Talent.

Das stellt die Auswahl von Rijneveld, nach eigenem Bekunden nur mäßig des Englischen mächtig, durch den niederländischen Verlag deutlich in Frage; der International Booker Prize für Rijnevelds Roman De Avond is ongemak (bzw. seine englische Übersetzung durch Michele Hutchinson!) war wohl das stärkere Argument. Hoffmann und Campe, Gormans deutscher Verlag, wollte alles richtig machen und engagierte ein Trio: Kübra Gümüşay, Hadija Haruna Oelker und Uda Strätling. Welche Kompetenzen kommen hier zusammen – und welche ‚Credits‘? Strätling ist erfahrene Literaturübersetzerin (allerdings weiß), Oelker ist Journalistin und Politologin (ohne Übersetzungserfahrung, dafür schwarz), und Gümüşay ist Journalistin und Autorin, berühmt geworden (aha) mit einem Buch über die politische Macht der Sprache (und türkischer Abstammung). Es kostet Überwindung, die Informationen über Hautfarbe und Abstammung aufzulisten. Müssen wir so rechnen, aufrechnen? Als die Übersetzung erschien, wurde sie überwiegend verrissen, da sie inhaltlich und politisch sensibel, aber sprachkünstlerisch – also bezüglich Rhythmus und Klang der Spoken Word Poetry – eher wie eine Lesefassung zum besseren Verständnis des Originals daherkam, das ja mitabgedruckt wurde.

Egal, wie politische aufgeheizt die Debatte ist: Bei einem Übersetzungsauftrag sollte die übersetzerische Kompetenz die wichtigste Rolle spielen, ganz einfach. Doch so einfach ist es offenbar nicht mehr.

Debatte und Fortschritt

In der Debatte gingen die Ebenen wild durcheinander. Jeder Shitstorm kriegt seinen Backlash. Bei der Gegen-Empörung schwang oft Unwille mit, neu zu denken. Argumentationskeulen wurden ausgepackt: Nun müssten die Chinesen sich aber anstrengen, eine schwarze Chinesin mit Legasthenie und einer alleinerziehenden Mutter zu finden, die sich als Übersetzerin  von Amanda Gormans Gedicht qualifiziert. Oder: Die Aktion gegen Rijneveld sei lupenreiner Rassismus – Ausschluss nur wegen der Hautfarbe.

Es war die schwarze niederländische Aktivistin Janice Deul, die den Shitstorm gegen Rijneveld lostrat, nicht etwa Amanda Gorman selbst. Deul legte eine Liste schwarzer niederländischer Spoken-Word-Poetry-Artists vor, die sie für die Übersetzung vorschlug. Auf der Ebene der Chancengleichheit sieht das genau richtig aus. Doch auf Deuls Liste stand keine einzige Übersetzerin. Also von zwei Autor:innen, die noch nie übersetzt haben, lieber eine Schwarze? Identität ist keine Kompetenz. Deuls Annahme – Schreibkompetenz plus passende Identität = ideale Übersetzerin – ist genauso ungenügend wie diejenige des Verlags: Schreibkompetenz  plus Prominenz = ideale Übersetzerin. Dass die ideale Übersetzerin vor allem Übersetzerin sein sollte, hatte Deul nicht bedacht. Allerdings: Anfangs, als es noch allein um Rijneveld ging, schwärmte der Verlag noch von Idealbesetzung; nur den schwarzen Autor:innen wurde sofort die fehlende Übersetzungserfahrung vorgehalten (und Rijneveld erst viel später). Das sagt einiges aus.

Deul hat inzwischen präzisiert, dass sie nie eine äquivalente Identität von Autor:in und Übersetzer:in gefordert habe (ein Missverständnis), sondern vor allem chancengleichen Zugang auch auf dem Gebiet der Übersetzung. Rijneveld wurde derweil via Facebook empfohlen, lieber das Werk einer jungen nicht-binären weißen Person zu übersetzen. Hier wird der richtige und wichtige Kampf um Chancengleichheit an der falschen Stelle, mit den falschen Mitteln gekämpft. Debattieren wir lieber konstruktiv, denken wir neu, handeln wir anders – ohne in Lagerdenken zu verfallen.

Zur Chancengleichheit gehören als Kehrseite die gleichen kritischen Maßstäbe bei der Betrachtung jedes Einzelfalls. Klischeehafte positive Diskriminierung bringt keine ausgleichende Gerechtigkeit. Gleiche Chancen für schwarze, nein: für alle bisher ausgeschlossenen Übersetzer:innen erreichen wir schlicht durch mehr Diversität beim Übersetzer-Casting, unabhängig von der Frage äquivalenter Identitäten. Und dann betrachten wir die jeweilige Übersetzung: kritisch, sensibel und kompetenz-woke.

Frank Heibert


Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung des Textes „Wer darf, wer soll, wer kann“, erschienen im April auf www.tell-review.de – Foto: Helmut Jasny

Frank Heibert, Berlin, geb. 1960, Literatur- und Theaterübersetzer aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen sowie Dozent, Autor, Kritiker, Jazzsänger. Übersetzungen: ca. 100 Romane und Erzählbände, 10 Sachbücher und 110 Theaterstücke, u. a. Werke von Don DeLillo, Richard Ford, George Saunders, Lorrie Moore, William Faulkner, Raymond Chandler, George Orwell, Tony Kushner, Neil LaBute, Boris Vian, Raymond Queneau, Marie Darrieussecq, Yasmina Reza, Michel Marc Bouchard, Karoline Georges u.v.a. Zahlreiche Ehrungen, zuletzt Straelener Übersetzerpreis 2017 (zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel).